684) Live-Podcast über den Wolken

Ich nehme im Flieger platz und mache es mir halbwegs „bequem“. Sechs Stunden soll der Flug nach Doha dauern. Irgendwie kriege ich die schon rum. Eine Zeitschrift habe ich mit, Musik, das Tablet und im Bildschirm vor wir währen auch noch Filme im Angebot. Aber ich muss mich noch mal erheben, jemand will auf einen der Mittelplätze, aber dieses kurze Aufstehen kommt mir sehr gelegen, denn nicht der Mangel an Unterhaltung wird die Herausforderung werden, sondern das lange Sitzen. Der junge Mann versucht noch jemanden anzurufen, bis auf ein „Eg“ kann ich nichts verstehen. Das „Eg“ bedeutet „eins“ in Hindi, aber da ich sonst nicht einmal das mir vertraute „Acha“ oder „TK“ höre, kann es kein Hindi sein. 

Er beendet das Telefonat, kurze überlege ich, ob ich ihn anquatsche, aber er kommt mir fast zeitgleich zuvor. Woher kommst du? Wo willst du hin? Ich möchte via Doha nach Singapur, er von Doha weiter nach Karachi. Er studiert in Berlin, lernt Deutsch und fliegt für zwei Wochen nach Hause zu seiner Family. Da beiße ich natürlich sofort an.

Und dann haben wir die vollen sechs Stunden geredet, durchgehend ohne Pause, selbst beim Essen. Wie im Podcast „Alles gesagt?“, der erst aufhört, wenn der Gast nicht mehr kann. Um „Gott und die Welt“ geht es dabei (obwohl wir Gott sogar ausgelassen haben), um Pakistan, Indien, Deutschland, USA, Energie, Verkehr, Bildung, Pluralismus, Verwaltung, Bürokratie, Digitalisierung, KI und noch jede Menge mehr. Meistens sprechen wir Englisch, zeitweise wechseln wir ins Deutsche, schließlich will er es ja lernen und das klappt schon ganz gut. Nicht einmal entstand so eine eigenartige Pause wo man sonst denkt, oh jetzt ist vielleicht genug gesagt oder man zieht sich mal für einen Moment zurück. Nein. Nicht ein verstohlener Blick auf die Uhr oder auf die Flugroute.

Als der Landeanflug über die Lautsprecher angekündigt wird, stellen wir fest, dass die „Zeit wie im Fluge vergangen ist“. Wieder was für sein Vokabelheft.

Tolles Gespräch. Toller Tag.
Telefonnummern getauscht, wir treffen uns in Berlin noch mal.
Es gibt noch so vieles zu bereden.

Grüße aus dem zweiten Flieger, ich kann nicht mehr sitzen.
Aber Land in Sicht!

73) R.I.P. Gespräch

Noch ist es zu früh, den letzten Gruß unter den Nachruf zu setzen. Aber man kann sich schon mal ein paar Notizen machen, damit es dann schneller geht, wenn es wirklich mal so weit ist.

Nein, es geht hier nicht um den Eisbär, auch nicht um den Regenwald oder einen Gletscher. Heute geht‘s … um … das Gespräch. Genau. Das Gespräch.

Vor tausenden Jahren wurde aus einem urzeitlichen Grunzen ein Wort, daraus ein Satz und später ein Dialog. Die Menschen saßen am Feuer, hatten weder Zeitung, noch Glotze, Netflix und What’s App. Also Reden.

Und wie ist das heute? Tja, wir bewegen uns wieder rückwärts:

  • Das Flug-oder Bahnvolk sitzt zwar stundenlang Schulter an Schulter, bekommt aber nicht mal ein „Guten Tag“ über die Lippen. Stattdessen hängen sie nur über Laptop, Handy oder Tablet. Der längste Satz von Mitreisenden ist: „Ich muss mal da durch“. Gern‘ doch, bitte sehr! Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da hatte man mangels Daddel-Kasten wirklich fremde Menschen auf dem Nachbarsitz angesprochen. „Na, und wollen sie hin?“ oder „Was machen sie denn so beruflich?“ oder „Saßen Sie nicht schon letzte Woche hier?“ Da würde man heute bereits wegen Social Engineering verklagt.
  • In den großen Politik-Talk-Shows müssen die Kontrahenten in kürzester Zeit ihren Standpunkt rüberbringen und dem politischen Gegner noch einen Leberhaken austeilen, bevor die Redezeit zu Ende ist. Eigentlich ist es die Aufgabe des Moderators, inhaltsloses Gelaber der Gäste zu beenden und wieder aufs Thema zu lenken. Mittlerweile grätschen die aber schon nach den ersten Sätzen in die Argumentation, werfen mit Fakten-Check, Video-Schnipseln und Social-Media-Zitaten um sich. Gruselig.
  • Am Freitagabend, ab 22:00 Uhr dagegen, soll es etwas lockerer zugehen. Prominente plaudern aus ihrem Leben. Das lässt sich zwar leicht verdauen, kann aber auch sehr ermüdend sein. Zum einen, weil man nicht weiß, ob der interessante Gast, bereits dran war oder erst kurz vor Mitternacht sprechen darf. Zum anderen, weil sich kein vernünftiges Gespräch ergibt. Während ein Gast antworten darf, hocken sieben andere daneben, trinken Wein, naschen Käsecracker und tun ganz interessiert.

Zum Glück gibt es noch wenige Formate, die da hoffen lassen. Da treffen sich zwei Menschen, sitzen gegenüber und reden eine Stunde lang. Das Gespräch gewinnt an Tiefe. Keine Werbung, keine MAZ, einfach nur so reden. Wie früher am Feuer. Großartig, erhellend und inspirierend. Mehr davon bitte!

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