4) Akteneinsicht 1989: Wandel

Im dritten Beitrag dieser neuen Kategorie >Akteneinsicht, arbeite ich mich ins Wendejahr 1989 vor. Veränderungen wurden fühlbar und auch in der Schule diskutiert.

Bereits am 01.07.1988 stand in meinem Halbjahreszeugnis “… stets gut über das aktuelle Geschehen informiert und erkannte auch schon die wesentlichen Zusammenhänge. Damit regte er die Pioniere zu einer offenen Diskussion über Probleme unserer Zeit an. Seine Wirksamkeit in dieser Funktion könnte er künftig noch erhöhen, wenn er die regelmäßige Wandzeitung als Impuls für die Diskussion einsetzen würde …“ (kleiner Hinweis, mich doch bitte ans Programm zu halten und nicht zu sehr abseits der Linie zu diskutieren)

Im Sommer gelang es DDR-Bürgern über Ungarn nach Österreich zu flüchten oder auch über die westdeutsche Botschaft in Prag in die BRD. Das blieb natürlich auch zu Hause nicht ungesehen und ungehört. Es rumorte im Land, was im September auch zu den bekannten Demonstrationen führte. Zwei neue Begriffe „Perestrojka“ und „Glasnost“ erreichten meinen Wortschatz und ein gewisser „Gorbi“ wurde zum Popstar. Mehr dazu in einem späteren Beitrag.

Im Folgenden nun wieder Einblicke in mein Hausaufgabenheft, meine Einträge belasse ich „normal“, die von Lehrern mache ich fett und heutige Kommentare gestalte ich kursiv. Wichtig ist mir aber noch zu erwähnen, dass ich nur einzelne Passagen rausgezogen hab, die ich heute mitteilsam finde. Von dem normalen Alltag aus Mathe, Deutsch, Physik, Bio etc ist da nicht viel zu sehen. Das ist natürlich keine „Aufarbeitung“ und entspricht keinesfalls wissenschaftlichen Standards. Also bitte Vorsicht mit Meinungsbildung auf Basis dieser Wortfetzen. Im Zweifel bitte Profis fragen oder auf ein Bier vorbeikommen.

Also, das Jahr 1989 lief recht unspektakulär an, bis März ist nichts aufregendes im Hausaufgabenheft zu finden. Den ersten Eintrag eines Lehrers gab’s am 25.03.1989 dann fehlen immer wieder einzelne Tage, die mit einer Rasierklinge entfernt wurden. Anscheinend hatte ich Gründe.

<<Hausaufgaben>>

17.03.1989: Freundschaftsratberatung

25.03.1989: Physik: T. stört wiederholt den Unterricht. (Man hat uns einen neuen Physiklehrer zugeordnet, ein Typ mit üblem Mundgeruch und großem Holzlineal, was immer kürzer wurde, wenn er damit auf die erste Bankreihe drosch)

10.04.1989: hier begann eine wochenlange Tortur, jeden Mittwoch wurde ich aus dem Sportunterricht rausgeholt und durfte im Sekretariat antanzen, in dem dann schon meine Mutter saß. Mit diesem Regel-Termin und von nun an stündlichen (!) Betragenszensuren, wollte man mich wohl zähmen. Das hielt dann bis Mitte Mai an, ich denke nicht, dass ich dann gezähmt war, aber ich glaube die hatten kein Bock mehr oder waren mit anderen Entwicklungen abgelenkt. Das Procedere war natürlich obernervig für mich, aber im Nachhinein bin ich auch dankbar. Zeigte es doch, dass sie Interesse an mir hatten, sie hätten mich ja auch fallen lassen können.

29.05.1989: Klassenfahrt! Bade-Erlaubnis, Adresszettel, Versicherungsausweis, Pionierausweis

30.05.1989: VEB WMK, 7. Oktober, Berlin, KFL „Völkerfreundschaft“ Ückeritz / Usedom (WMK stand für Werkzeugmaschinenkombinat, KFL für Kinder-Ferienlager, die Betriebe unterhielten solche Ferienunterkünfte für Mitarbeiter und Kinder, konnten auch von Schulen genutzt werden)

09.06.1989: T. stört wiederholt den Unterricht

18.06.1989: T.‘s Verhalten hat sich wieder verschlechtert. Er versucht, mit anderen in Kontakt zu kommen. Heute aß er während des Unterrichts. (Na und … heute daddeln die Kinder aufm Handy)

17.09.1989: Betragen:4, Mitarbeit 4: (auf einer Skala von 1-5 wohlgemerkt)

03.11.1989: Betragen besser geworden! (Nanu … sieht aber auch eher aus wie meine Schrift … ist aber von einem Lehrer unterschrieben)

08.11.1989: Musik: Wahllied Kampflieder (interessant, noch bis zum 08.11.89 wurde musikalisch für den Sozialismus gekämpft)

09.11.1989: (das steht nichts Besonderes im Heft, der 09.11.1989, Tag des Mauerfalls (!), ein völlig langweilige November-Tag? … aber kein Wunder, die Verkündung des Polit-Büros erfolgte ja auch erst am frühen Abend)

14.11.1989: Physik: Betragen: 5 (warum soll es nun anders sein, nur weil man das Land verlassen darf)

15.11.1989: Staatsbürgerkunde: Welche Vorschläge von Parteien zu Reformen? (Na schau mal einer an, der erste Eintrag in der Wandel im Heft dokumentiert ist)

24.11.1989: Arbeitshaltung schlecht, Disziplin: 4, Fleiß nicht seinen Möglichkeiten entsprechend (stimme ich voll zu)

28.11.1989: Musik: Spaniens Himmel (…breitet seiner Sterne über unseren Schützengräben aus. Und der Morgen grüßt schon aus der Ferne, bald geht es zu neuem Kampf hinaus) … ( man sieht, trotz der Veränderungen versucht man noch an einer Normalität festzuhalten)

06.12.1989: T. hält sich nicht an die Schulordnung – quasselt und isst Kaugummi im Unterricht (endlich gab es die guten Kaugummis mit denen man besser Blasen machen konnte)

<<Zeugnis>>

30.09.1989: … Seine Arbeit als Pionier war demgegenüber von wesentlich mehr Ehrgeiz gekennzeichnet (na schau mal einer an)Auch zu Fragen und Problemen im Kollektiv äußerte er ehrlich seine Gedanken … Doch sollte er sich manchmal vor Selbstüberschätzung hüten (what?) und lernen, auch die Meinungen anderer Kollektivmitglieder zu akzeptieren(… autsch, das tut ja heute noch weh …)

<— 3) Akteneinsicht 1988: Altstoffe und nasse Lappen

—> 5) Akteneinsicht 1989: Mit Udo zum Fahnenappell

 


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11 Kommentare zu „4) Akteneinsicht 1989: Wandel

      1. Oh ja, das wäre wirklich toll uns vermutlich sowohl sehr lustig wie auch manchmal nostalgisch. Meine Hausaufgabenhefte habe ich gar nicht mehr, nur meine Zeugnisse mit den „textuellen Bewertungen“.

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