Eine Geschichte fehlt hier noch, bevor es weiter ins Jahr 1990 geht. Der erste Ausflug nach West-Berlin. Mittlerweile sieht man ja fast immer dieselben TV-Aufnahmen. Knatternde Trabi‘s, die über die Grenze fahren, West-Berliner die ihnen vor Freude aufs dünne Duroplast-Dach trommeln, Rotkäppchen-Sekt, Küsschen für den Grenzsoldaten. Glück und Freude überall. Aber war das so?
In meinen Schulunterlagen habe ich einen Aufsatz von mir gefunden, der genau dieses Erlebnis beschreibt. Insofern besteht gar keine Gefahr, dass ich rückwirkend etwas glorifiziere oder dramatisiere, was gar nicht war. Ich muss mich nur an den Text halten. Ich will den hier aber nicht komplett wiedergeben, sondern greife ein paar Passagen raus.
„Meine Eltern beschlossen … am Sonntag, den 12. November 1989 einen Ausflug nach West-Berlin zu unternehmen … Wie wird es dort aussehen? Was würde mich dort erwarten? Ist es dort so, wie man es von der Werbung her kannte? …. Zum Grenzübergang Oberbaumbrücke wälzte sich eine riesige Menschenmenge und wir mittendrin. Die Grenz-Soldaten konnten den Ansturm kaum bewältigen … In West Berlin angekommen, erhielten wir einige Zeitungen mit entsprechenden Tips für den Besuch … gingen zu Fuß quer durch den Bezirk Kreuzberg … In einer Geschäftsstraße bestaunte ich die Warenangebote. Besonderes Interesse hatte ich für die Tontechnik … Als ich an einem Café las, dass es für DDR-Bürger eine Tasse Kaffee kostenlos gab, kam ich ich mir vor wir ein Bettler … Manche unserer Bürger benahmen sich so auffällig, dass ich mich direkt geschämt habe. Das haben wir nicht nötig … Mitten im Trubel und Prunk sahen wir auch verwahrloste Leute … Auf der einen Seite reizvoller Angebote, tolle Autos, Kino‘s und auf der anderen Seite Armut und Obdachlosigkeit … obwohl es ein schöner und aufschlussreich Tag war, fühlte ich mich innerlich wohl, wieder zu Hause zu sein“
Die nächste Stippvisite erfolgt über den Grenzübergang Eberswalder Straße. Also dort wo heute der hippe Mauerpark liegt. Die Szenerie war ähnlich, kalte Temperaturen, Schlangestehen, Menschengeschiebe. Und dann standen wir auf einmal auf der Bernauer Straße im Bezirk Wedding, einer langweiligen Wohngegend. Wir liefen entlang der West-Mauer bis hoch zur Brunnenstraße und bogen dann rechts ab. Da gab es dann immerhin mal ein paar Läden. Weiter über Humboldthain und Bahnhof Gesundbrunnen, rein ins orientalische Leben der Badstraße. Türkische Gemüsehändler, Elektronik-Läden und ich glaube, dass ich dort meinen ersten Döner gesehen hatte. Das roch verdammt gut, aber ich meine, wir sind vorbeigegangen. Das Begrüßungsgeld erhielten wir erst später.
Ein weiteres Mal, dass wir die Mauer überquerten, war in der Weihnachtszeit am Brandenburger Tor. Ich bin fest der Überzeugung, dass beim Durchschreiten eilig demontierter Mauer-Segmente eine Nachricht verbreitet wurde. Da hieß es über Megafon, dass „Nicolae Ceaușescu erschossen „wurde“. Die Menge bejubelte das Ende des rumänischen Diktators. Ich habe das noch mal geprüft. Ceaușescu wurde am 25.12.89 hingerichtet, dass würde bedeuten, dass wir an erstem Weihnachtsfeiertag „rüber“ nach West-Berlin spazierten. Eher unwahrscheinlich. In der Familie heißt es, es wäre ein Werktag gewesen. Laut ChatGPT wurde der Grenzübergang Brandenburger Tor am 22.12.89 geöffnet und Ceaușescu am 22.12.89 festgenommen. Der 22.12.1989 war ein Werktag. Das würde passen. Gut, dann hat man vielleicht bejubelt, dass man ihnen erschiessen „werde“. Letztlich auch egal, zeigt aber, dass man mit Erinnerungen vorsichtig sein muss.
Als ich im >Februar 2020 vor dem Palast in Bukarest stand, bekam ich einen Eindruck von Ceaușescu‘s Größenwahn. Wenn ein Gebäude einschüchtern kann, dann das.
Titelbild vom 09.11.24, Reste der Berliner Mauer (Westseite), am unteren Teil der Bernauer Str, vorne Fahrradstreifen, dahinter Todesstreifen
<— 6) Akteneinsicht 1989: Mit Basecap zu Gorbi
—> 8) Akteneinsicht 1989: 100 Mark West
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„… fühlte ich mich innerlich wohl“, herrlich. Das Gegenteil, sich innerlich unwohl fühlen, erinnere ich auch. Beim Anstehen nach dem Begrüβungsgeld. Kostenlos gab es im Dezember, als wir das erste Mal in Berlin rübermachten, schon nichts mehr. 😂
Hi Anke, da bin ich rückwirkend froh, dass es anderen auch so ging. Tja und 100 Mark sind schnell weg, erst rechts 100 „West-Mark“ sind
Deine Einblicke/Erinnerungen sind ungemein spannend – vor allem das, was Du damals empfunden, gedacht hast. Danke fürs Teilen und den Perspektivenwechsel, den ich dadurch bekomme.
Danke, gerne doch. Freut mich wenn es euch interessiert
Da schließe ich mich an!
Danke
Sicher war nicht alles was im DDR Fernsehen uber den Westen berichtet wurde Propaganda. Ich erinnere mich an einen Besuch in West Berlin im Jahre 1984. Aus Spass an der Freude habe ich das DDR Fernsehen angeschaut dass man in West Berlin empfangen konnte. Da berichtete doch ein DDR Reporter vom Untergang des westlichen Systems. Es wurden Landstreicher, Obdachlose und Drogenabhangige gezeigt. Der Westen Deutschlands wurde als ein Vagabunden Paradies dargestellt wo wenige Reiche die arme Armheit schamlos unterdruckten. Der Reporter sagte dass der Fortschritt des Sozialismus so etwas in der DDR unmoglich mache. Nach diesem Bericht wollte man offensichtlich die DDR Burger davon uberzeugen dass der Sozialismus das weitaus bessere System fur die Mehrheit der arbeitenden Bevolkerung ist. In der DDR gab es keine Obdachlose, Landstreicher und Arbeitslose. Ich personlich habe den Bericht zur Kenntnis genommen und danach eigentlich nie daran gedacht dass so viele DDR Burger absolut unzufrieden mit dem Leben im sozialistischem Paradies waren.
Also der Westen wurde in den DDR-Medien eigentlich permanent madig gemacht, in Ost-Berlin konnte man ja zumindest auch West-Fernsehen oder West-Radio empfangen und sah dann die schillernde Werbewelt. Aus diesen beiden Extremen musst man sich nun ein Bild machen, ohne es überprüfen zu können. Bis Nov 1989 zumindest
Der Kapitalismus hat gegen den angeblichen Sozialismus gesiegt denn sonst muesste eigentlich ganz Deutschland sozialistisch im Sinne von Honecker sein.
Die Vernunft hat bis zum heutigen Zeitpunkt immer noch nicht gesiegt denn viele Vorteile die es in der DDR gab, wie z.B. den Kindergarten fuer alle Kinder, wurden immer noch nicht umgesetzt. Auch beim Thema Burgerbeteiligung sehe ich keine Verbesserungen. Es wird immer noch zuviel ausgesessen. Das hatte ursprunglich die Angela Merkel von Helmut Kohl gelernt und erfolgreich umgesetzt. Ihr Nachfolger konnte seine Regierungskonflikte jedoch nicht aussitzen und Deutschland darf bald wieder wahlen. Da ich schon 11 Jahre ausser Landes bin darf ich mich an diesem Vergnugen nicht beteiligen.
Ich denke, eine etwas langsamere und bewusstere Annäherung und dann Vereinigung, hätte dem neuen Deutschland gut getan und dann hätte die ein oder andere Errungenschaft mit „rübergerettet“ werden können. Und selbst wenn heute gewisse Dinge „erfunden“ und als schlau betrachtet werden (die es in der DDR schon mal gab), dann tut mich sich schwer, das auszusprechen. Stattdessen schaut man gern nach Skandinavien und staunt über Kinderbetreuung, Frauenarbeitsquote etc
Ich durfte ja vor 89 schon einige Male fahren, da viele nahe Verwandtschaft dort lebte. – Ich war zwar aus verschiedenen Gründen keine ausgesprochene Freundin der DDR-Politik, aber als ich das alles bei den Besuchen erlebte, diese Überfülle, die ständige Reklame und Werbung überall, das Licht bis weit in die Nacht hinein, den Verkehr – irgendwie war mir das alles zu viel und ich war auch jedes mal wieder froh, in mein ruhigeres Leben zurück zu fahren.
Danke für deiner Erinnerungen. Tja, hier Fassaden aus Löchern, da Fassaden aus Licht
Spannende Einblicke, lieber T-Kopf und Kommentator(inn)en! Für mich von der BRD-Westgrenze war die DDR ein anderer Planet. Aber das Gefühl, vom Konsum-Westen überwältigt zu sein, kenne ich: Wir kamen 1986 nach drei Jahren aus Südindien zurück – und unser Land war nicht wieder zu erkennen: Statt über „Reformieren des Systems“ (bei uns!) diskutierte man über Mode und neueste CD-Player. Ein Besuch in einem funkelnden Karstadt machte uns so schwindelig, dass wir schnell nach Hause mussten.
Danke Reiner, ja so ein Gefühl der Überforderung kann ich gut nachvollziehen. Habe mal nach einem nur 3-wöchigen Kuba-Urlaub ein deutsches Kaufland betreten und stand hilflos, etwas panisch in den Gängen und haben dann abgebrochen.
Spannend. Auch dass das Erinnern, also das chronologische schwierig ist. Immer, wenn ich an diese Zeit zurück denke muss ich pusseln.ich hab mein Begrüßungsgeld damals in Ungarn bekommen oder in Heidelberg. Ich habe Rumänien irgendwie nur von seiner ländlichen Seite erlebt. Vielleicht schaue ich mal, ob ich im nächsten Jahr die Möglichkeit finde es noch mal zu bereisen, Urlaubspraktikum oder so. Dieser Größenwahn Ceaucescus und die Armut der Bevölkerung
Ja, irgendwann verblasst das alles, gerät durcheinander oder wird sogar spektakulärer als es eigentlich war. Auch mit ein Grund, warum ich mal ein paar Dinge notieren. Begrüßungsgeld folgt noch … ;-9
Ich hab eine Pragreise, die kurz vor meiner Übersiedlung 89 stattfand in den Sommer gelegt. Ich war mir sicher: T- Shirt Sandalen Sommer, inklusive Bilder vom Hradschin und Café. Dann fand ich die Fahrkarte Februar 89. Ist echt irritierend.