75) Abseits – Vol 3

Noah aktiviert die automatische Antwort, die von nun an jedem Absender geschickt werden würde, der ihm in den nächsten Wochen eine E-Mail schreibt. Er fährt den Laptop herunter und klappt den Deckel zu. Ein wenig brummt das Gerät noch nach, dann aber verstummt der Lüfter im Inneren und es ist endlich Ruhe. Das Headset hängt er an einen improvisierten Nagel in der Gipswand. In diesem Moment denkt er an ein Sprichwort.

Er atmet einmal laut ein und aus, greift die Henkel der kleinen Reisetasche, in der er am Tag zuvor ein paar Dinge zusammengepackt hatte.

Wechselsachen, Reisepass, Kreditkarten, Notizbuch, ein paar Kabel … alles Andere würde sich unterwegs ergeben.

Er lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen, ruft den Aufzug, betritt die leere Kabine und stellt sich vor den zerkratzten Spiegel. Der Aufzug setzt sich in Bewegung und Noah schaut sich in die Augen. „Soll ich das wirklich machen?“ fragt er flüsternd. Das Gesicht im Spiegel scheint zu nicken.

Unten auf der Straße wartet ein älterer VW-Bus, den er sich für die nächsten Wochen geliehen hat. Er ist vollgetankt und ein dicker Europa-Atlas liegt auf dem Beifahrersitz. Hinten gibt es eine höher gelegte Pritsche, darunter Stauraum für Vorräte, Getränke und Material. Kein Luxus, aber genauso, wie er es sich immer vorgestellt hat. Mehr braucht er nicht.

Er nimmt hinter dem Lenkrad Platz, steckt den Zündschlüssel und bittet den Anlasser, das zu tun, wofür er geschaffen wurde. Nach etwas Meckern springt der Bus an und scheint auf weitere Anweisungen zu warten. Auf das Betätigen von Hebeln und Pedalen oder das Drehen am schwergängigen Steuer. Aber Noah zögert, denn eine Frage ist noch unbeantwortet, seit dem Moment, als er sich diese Fahrt in den Kopf gesetzt hatte.

„Wohin eigentlich?“

Egal.

Er verlässt die Parklücke, folgt der Ausfallstraße hinaus aus der Stadt und dem Schild „Alle Richtungen“. Dann fährt er auf einen vierstrahligen Kreisverkehr zu, orange Blinklichter lassen eine Baustelle vermuten. Der Kreisverkehr ist aber befahrbar, nur haben sie alle Richtungsanzeiger entfernt. Noah fährt in den Kreis ein, dreht ein paar Runden und verliert schnell die Orientierung. Ein klappriger Kompass auf dem Armaturenbrett dreht sich eifrig und kommt kaum hinterher. „Hier?“ „Oder besser hier?“ murmelt Noah vor sich hin.

Egal.

Noah umklammert das Lenkrad, schließt die Augen, zählt langsam von 10 auf 0 herunter, öffnet die Augen wieder und nimmt die nächste Ausfahrt.

Kurz darauf empfängt er eine Nachricht von Nuomi.

Yumi: Wo bist du?
Noah: Auf der Straße.
Yumi: Und wohin geht‘s?
Noah: Mal sehen.

<— Abseits – Vol 2

PS: Titelbild via ChatGPT

557) Camper

In den Straßen unseres Kiezes fallen mir immer mehr geparkte Camper auf. Nicht nur, dass sie ordentlich Stellfläche verbrauchen, frage ich mich natürlich auch, was die hier auf einmal alle machen?

Also wat is da los?

  • Sitzt da ein Geheimdienst unten vor der Tür, zieht mir irgendwann einen Sack über den Kopf und zerrt mich in den Bus?
  • Gehört es zum Einmaleins der Prepper-Szene, immer ein gepacktes Wohnmobil vor der Tür zu haben, mit dem man dann flüchten kann, wenn das Böse vor den Toren der Stadt steht?
  • Vielleicht wohnt da jemand drin? Ist es das Geheimrezept, dem knappen Wohnraum zu begegnen?
  • Oder ist es das neue Konzept für gescheiterte Ehen? Muddi schläft oben bei den Kindern, Vaddi geht mit Schlappen, Kulturbeutel und Handtuch über der Schulter für die Nacht in den Camper?
  • Oder ganz anders, das Personal pennt da im Bus. Ja, so ist das. All die Logopäden, Osteopathen, Psychotherapeuten und Coaches, die sich um die Kinder kümmern, müssen ja 24/7 in der Nähe sein. Nur für den Fall.

Wer weiß, wer weiß. Aber eigentlich find ich so‘n Ding ja schon sehr schnittig und es macht auch was mit mir. Eine dicke Mobil-Funk-Antenne aufs Dach, ein Solar-Panel dazu und dann geht‘s ab. Einfach losfahren. Da wo es schön ist anhalten, bisschen was arbeiten und dann die Handbremse lösen und weiterfahren.  

66) Abflug

Nach der freitäglichen Satire-Sendung leerte Noah sein Weinglas und tappte ins Bad. Manchmal wusste er nach solchen Sendungen gar nicht mehr, ob er lachen oder weinen soll. Er setzte sich aufs Porzellan und ließ die vergangene Arbeitswoche vorbeiziehen. Dabei schaute er sich erst auf die Füße, dann auf den fusseligen Badvorleger vor ihm. In der Matte regte sich etwas. 

Mhm, was ist das? Ein Tierchen? Eine Fliege? Der Wein?

Sitzend beugte er sich nach vorn, fummelte durch die Fransen der Matte und auf einmal saß ein Marienkäfer auf seinem rechten Zeigefinger. Sofort kamen Erinnerungen aus der Kindheit hoch. Schöne Erinnerungen. Bei Marienkäfern galt es immer, die Punkte auf dem Rücken zu zählen und sie dann freizulassen. Noah grinste und wollte dieses Ritual umgehend durchführen. 

Nur gab es ein Problem. 

Er saß ja noch auf dem Porzellan. Um das bodentiefe Badfenster öffnen zu können, müsste er sich vom Klo erheben und es wäre auch angebracht, die Hose hochzuziehen, schließlich brannte im Bad das Licht und draußen war es stockdunkel. Nur saß auf dem rechten Zeigefinger immer noch der Käfer und für das anstehende Befreiungsmanöver wären freie Hände von Vorteil. Zumindest mal die rechte Hand. Also bugsierte Noah den Käfer auf die linke Hand, befreite sich vom Klo und zog improvisiert die Hose hoch. Dann öffnete er das Fenster, senkte die linke Hand in Richtung des Geländers, in der Hoffnung der Käfer würde es sich dort bequem machen oder von der Brüstung abfliegen. Aber nein. Egal was Noah anstellte, der Käfer lief immer wieder aufwärts in Richtung Handrücken. Was tun? Könnte er ihn von da oben vielleicht sachte „wegschnipsen“? Schließlich kann er fliegen, aber wer möchte schon Freitag 23:00 vom fünften Stock geschnipst werden?

Der Käfer witterte wohl die Gefahr, machte einen Satz zurück uns Bad und landete auf dem Boden. „Na toll. Das Badfenster steht sperrangel weit auf und ich robbe hier im Flutlicht auf allen Vieren über den Boden, um diesen Käfer zu retten“, dachte er sich. Egal. Noah nahm ein Blatt Toiletten-Papier, schob es vorsichtig unter den Käfer und trug ihn ohne so wieder an die Brüstung. „Los flieg“, sprach er zu dem Käfer. Der aber machte keine Anstalten abzuheben. Noah manövrierte das Papier an die weiße Fassade des Hauses, der Käfer wechselte tatsächlich an die Hauswand und hielt dort kurz Inne. „Jetzt aber Ablug Kleiner, ich will ins Bett“. 

Der Käfer nickte dankend und flog ab.

Noah schloss das Fenster, schaltete das Licht ab und beendete den Tag mit einer Liedzeile.

„Ich wär so gern mitgeflogen“

63) Abseits – Vol 2

Bevor Noah die Tür öffnete, um nach draußen in den Sturm zu treten, legte er Kopfhörer und Auto-Schlüssel auf den kleinen Flurschrank. Beide würde er da, wohin er nun hingehen wollte, nicht brauchen. Er zog die Kapuze drüber, steckte die Hände in die warmen Taschen und machte sich auf den Weg zu den Dünen. Zunächst steuerte er das große Seezeichen an, aber eigentlich zog es ihn innerlich an die Südspitze der Insel.

Er hat wohl einen Faible für Südspitzen, dachte er sich, als er das Seezeichen auf einem Hügel erreichte. Er suchte nach einer Erklärung dafür, denn alles hat einen Grund, ihm fiel aber keine Bessere ein, außer dass es wohl auf der Erde einfacher sei, Südspitzen zu erreichen, als Nordspitzen. Und attraktiver.

Der Tag war aber schon fortgeschritten, so meldete sich ein nervender Wesenszug in ihm. Soll er es heute noch zur Spitze wagen? Oder besser doch wieder umkehren? Wäre es nicht vernünftiger, wenn …? Schließlich wird es in einer Stunde dunkel. Vernunft. Immer diese scheiß Vernunft.

Aber er folgte den Trampel-Pfaden, die wie Narben in Richtung Süden führten. So lief er durch die Dünen und kämpfte dabei gegen Sand und Wind an. Doch umkehren? Man könnte ja vielleicht auch morgen noch mal. Besser von der aktuellen Position, wo noch alles unter Kontrolle ist, als von der Südspitze. Kontrolle. Immer diese scheiß Kontrolle.

Weiter ging er, einen Fuß vor den anderen. Nach Süden. Die Wolken wurden dunkler und es begann zu regnen. Er konnte das Ziel eigentlich schon sehen und wieder meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Und wenn es da keine ordentlichen Wege gibt? Oder alles weggespült ist? Und die Flut. Oh ja die Flut, setzt ja auch bald ein. Wäre es nicht klüger, jetzt besser umzukehren? Klugheit. Immer diese scheiß Klugheit.

An der Südspitze angekommen, riss die Wolkendecke auf, der Regen ging in eine Pause und die Sonne brach durch.

Gut, dass er weitergegangen ist.

<— Abseits – Vol 1