263) Corona-Lektionen 107

Tja, was gibts neues bei Corona und seiner buckligen Verwandtschaft? Im Wesentlichen 3G im Handel und im ÖPNV auch, die Neuinfektionen sinken leicht, zumindest hier in Berlin. Alles Weitere könnt ihr woanders nachlesen. Möchte hier keine coronologische Coronik führen, sondern eher zurück zu uns … uns … tja … was sind wir eigentlich im Corona-Kontext? Gastgeber, Beobachter, Opfer, Nutznießer, Verstärker?

Interessante Frage eigentlich, aber nicht heute, ich komme ein anderes Mal drauf zurück.

Ein paar Gedanken der letzten Tage:

Relativität:
In den Nachrichten sah die Kurve kürzlich schon sehr erfreulich aus, sie war fast am Boden des Diagramms angekommen. Beim genaueren Hinsehen sah ich, dass die Skala aber auch erst bei 300 -er Inzidenz begann. Vielleicht kann man mit dem Praktikanten, der das Chart gemacht hat, noch mal reden?

Nähe:
Ich schaue mit den Kids einen Weihnachtsfilm, da sitzen die beiden Protagonisten nebeneinander im Flieger. Sie sprechen sich an, sie pusten, atmen einander an, beide Gesichter nur eine halbe Armlänge entfernt. Instinktiv zucke ich selber schon zurück, so nahe ist mir kein fremder Mensch seit 2 Jahren gekommen. Außer vielleicht der Zahnarzt, aber der hat eine Maske auf. Es wird wohl noch dauern, bis ich eine solch fremde Nähe mal wieder zulassen kann.

Wortwahl:
Die Morgenpost schreibt in der Wochenendausgabe: „Beschäftigte in Pflegeheimen und Kliniken müssen bis Mitte März 2022 genesen oder geimpft sein.“

Also ihr lieben Beschäftigen: Wenn ihr aktuell im Intensiv-Bett liegt, dann habt ihr noch etwas Zeit, Ihr solltet euch aber ranhalten. Wenn ihr immer noch keinen Bock auf Impfen habt, dann legt euch mal bald eine Infektion zu, damit ihr das noch bis Mitte März 2022 hinbekommt. Denn ihr müsst „bis Mitte März genesen sein“.

Coronastalgie:
Neulich schrieb ich in >New Concert etwas nostalgisch über Konzert-Events vor der Pandemie und da kam mir das Wortspiel „Coronastalgie“ in den Kopf. Ich habe dann gleich die große Datenkrake befragt und es gibt den Begriff wirklich noch nicht, zumindest nicht im Deutschen. Also betrachte ich mich mal als Wortschöpfer, zumindest solange bis die großen Gazetten wieder übernehmen. Aber ich bin mir noch nicht im Klaren, von welcher Epoche ich mit diesem Begriff schwärmen will.

  • Von der Zeit vor der Pandemie? Mit interkontinentalen Reisen, Kultur, Party und Nähe?
  • Ober von der Zeit in der Pandemie? Mit Verzicht, Focussierung, Besinnung und Distanz?

In diesem Zusammenhang möchte ich noch mal meinen Beitrag >Postpandemische Belastungsstörung von Juni 2020 empfehlen. Der spielt in der damaligen Zukunft, im Juni 2021 und blickt zurück auf ein Jahr Pandemie. Eigenlob stinkt zwar, sagt man, aber ich find den gut und ich habe hier Hausrecht 😉

Schöne Woche noch!
T.

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14) PPBS – Postpandemische Belastungsstörung

14. Juni 2021: Liebes Tagebuch, ich habe dir schon lange nichts mehr anvertraut, aber heute kann ich nicht mehr anders. Denn ich bin ein Wrack. Das Jahr nach Corona war einfach zu viel für mich.

Vor gut einem Jahr wurden immer mehr Corona-Maßnahmen gelockert und alles unterlag dem Ziel, die Deutsche Wirtschaft wiederzubeleben. Anfänglich wurde mit einem Wumms die Mehrwertsteuer gesenkt, aber das war ja alles noch harmlos und nur der Beginn viel weitreichender Konjunktur-Pakete.

  • Bereits im Spätsommer 2020 wusste ich schon gar nicht mehr, was ich noch alles kaufen sollte. Die monatlichen Zwangsumsätze, die deutsche Haushalte zu erreichen hatten, waren kaum zu schaffen. So viele Schuhe, Hemden und Hosen brauchte ich doch gar nicht. Oft habe ich dann irgendetwas gegriffen, zügig bezahlt und die Einkäufe dann aber dort stehen lassen.
  • Als das Wirtschaftsministerium dann die Haushaltsgeräte-Hersteller anwies, deutsche Fabrikate per Fernsteuerung außer Funktion zu setzen, begann der nächste Stress. Auf einmal mussten sich unzählige Haushalte neue Waschmaschinen, Geschirrspüler und Kühlschränke anschaffen. Endlich kam es zu den erhofften Lieferengpässen. Die alten Geräte waren aber nun mal kaputt. Das ebnete den Weg für die nächste Maßnahme.
  • Um die Gastronomie wieder anzukurbeln, sollten die Menschen verstärkt auswärts essen. Ich habe 20 Kilo zugenommen, kann keine Pizza und kein Schnitzel mehr sehen. Gehe ich am Asia-Bistro vorbei, kriege ich vom Glutamat-Aerosol rote Pickel im Gesicht. Der nagelneue Geschirrspüler hatte kaum noch etwas zu tun, der endlich gelieferte neue Kühlturm kühlte nur noch mein Bier und die blauen Kühl-Packs für Sportverletzungen.
  • Auch mein alter Diesel versagte eines Morgens den Dienst. Bei nur 160.000 Kilometern. Dem Automobil-Club war untersagt, den Fahrzeughaltern zu helfen. Als ich die Karre eigenhändig zur Werkstatt schob, schüttelte man nur den Kopf. Reparatur-Verbot. Erlass vom Wirtschaftsministerium. Als ich dann mit einem Hybriden aus Japan liebäugelte, schickte man mir Agenten des Deutschen Automobilverbands auf den Hals.
  • Und dann ging es weiter. Um die am Boden liegende Hotellerie zu retten, wurde jeder volljährige Staatsbürger verpflichtet, einmal pro Woche in einem Hotel zu nächtigen. Kostenloses Pay-TV, freie Mini-Bar und Frühstück ans Bett machten diese Einzelhaft zwar annehmlich, ich wäre aber lieber zu Hause gewesen. 
  • Als dann nach den Sommerferien die Berliner Clubs wieder öffneten, mussten wir auch dort regelmäßig antanzen. Ich meine, Blitzlicht und Nebeleffekte sind ja schon anstrengend genug, aber dann noch tanzen? Mit Maske! Ich halte mich ja eigentlich für sportlich, aber das war dann doch zu viel.
  • Zum Herbst hin, wurden dann die Kinos geöffnet. Unmengen Filme wurden auf den Markt geworfen und die Kino-Industrie erwartete, dass man auch dort vorbeischaut. Der gute neue Stoff war schnell durchgesehen, dann folgten nur noch schlechte Remakes. Kinokarten gab es nur noch mit Snack-Paket zu kaufen und der Werbeblock war nun doppelt so lang.
  • Und dann noch die Luftfahrt. Der Staat war ja nun Miteigentümer einer Airline. Und die Flugzeuge sollten wieder fliegen. Du glaubst nicht wieviele Flüge ich absolvieren musste. Stundenlang saß ich im Flieger, manchmal drehten wir nur über der Stadt, damit die noch übrig gebliebenen Piloten ihre Pflichtstunden absolvieren konnten. Damit es nicht so langweilig wurde, haben sie dann Elemente aus dem Kunstflug eingebaut. Erstaunlich, zu was so ein Airbus fähig ist und wieviele Kotztüten ich gefüllt habe.

Und das war noch lange nicht alles, liebes Tagebuch. Während der Corona-Zeit dachte ich ja, dass all die Einschränkungen einen bleibenden Schaden in uns hinterlassen, aber es war eher die Zeit danach, als es all die Verluste wieder aufzuholen galt. Immer häufiger wünsche ich mich in die Corona-Zeit zurück. Alles war entschleunigt, das Meiste war geschlossen, man konnte mal was lesen und Podcasts hören. Wir waren schon froh, überhaupt mal vor die Tür zu kommen. Das waren noch Zeiten.

Berlin, 14. Juni 2021