Heute probiere ich mal etwas Neues aus. Ich verschicke rückwirkend eine Postkarte von einem Ort, den es heute nicht mehr gibt. Zumindest nicht so, wie er Jahrzehnte war und so wie er in zig Reiseführer als „must visit“ eines jeden Delhi-Besuchers einzog.
Aber der Reihe nach. Neulich war ich beim Inder um die Ecke, der Laden nennt sich Chandni (Mondlicht). Und als das Curry weggeputzt war und im Hindergrund Boolywood-Musik schmetterte, drifteten meine Gedanken zum Chandni Chowk in Delhi ab. Einer der verrücktesten Straßen der Welt und gleichnamigen Viertel drumherum. Zu Hause angekommen bemühte ich die Datenkrake nach ein paar aktuellen Bildern von dort und traute meinen Augen nicht. Sie haben es wirklich getan. Sie haben die Chandni Chowk Road, eine der abgefahrensten Orte, in eine Fußgänger-Zone verwandelt. Ich rede hier nicht von München, Stuttgart oder Leipzig, sondern von Delhi. Old-Delhi.
In 2015 zum Beispiel war ich vor Ort und da war alles noch ganz „normal“. Das Gewusel in der Chandni Chowk Road, lässt sich ohne Geräusche, Gerüche und Temperatur kaum beschreiben. Es ist proppenvoll. Menschen, Hunde, Kühe, Affen und Krähen wuseln durcheinander. Genauso wie Fahrrad-Rickshaws, Auto-Rickshaws (a.k.a. Tuk Tuk) Mopeds, Fahrräder und Autos. Ständig hupt irgendwer und Musik tönt aus den Geschäften. In den Shops wird alles Mögliche verkauft, Leder, Gewürze, Musik, Technik. An Fußweg und Straßenrand macht jeder seine Geschäfte, da wird gebettelt, der nächste macht ein Nickerchen, manch einer wacht nie wieder auf, Tagelöhner bieten ihre Dienste an, Hunde liegen mittenmang und es besteht die sehr große Wahrscheinlichkeit, dass man in eine tiefe Pfütze von … man will es nicht wissen … tritt. Biegt man in den Gassen zwei, drei mal ab, fühlt man sich schnell verloren, biegt man zu oft ab, ist man als Bleichgesicht auf einmal ganz allein und fragt sich, ob das nun die beste Idee war. Die Bausubstanz rundherum ist marode, die Elektroleitung hängen kreuz und quer über die Straße, Werbetafeln kaschieren den Verfall. Hier ein paar Bilder aus 2015.
In 2019 war der Anblick schon anders. Natürlich wollte immer noch jeder Geschäfte machen und es gab junge Typen, die meinten, wir sollen da bloß nicht alleine rein, es sei viel zu gefährlich. Er könne uns aber führen. Was für ein Zufall. Ich lehnte dankend ab. Es war immer noch riesiges Gewusel, aber es gab mehr Freiräume und erste Baustellen. Ich vermutete zunächst Kanalarbeiten oder so etwas.
Dann trafen wir auf diese Informationstafel, sie deutete schon an, dass hier ganz große Dinge geplant sind. Aber so etwas wird dort häufig geplant und dann dauert es weitere 100 Jahre, bis das Vorhaben abgeschlossen ist.
Aber nun haben sie echt Ernst gemacht. Sie haben den Verkehr anscheinend verbannt und aus rotem Sandstein eine Fußgänger-Zone gebaut. Da wo früher ein „Grün“streifen mit Zaun war, stehen jetzt Pflanzenkübel und Poller. Rein optisch gesehen, passt das jetzt besser mit dem Red Fort zusammen, welches gegenüber steht und mit großer Indien-Fahne auf sich aufmerksam macht.
Laut >Times of India vom 28. Juli 2020 wartet der neue Chandni Chowk mit folgenden Highlights auf:
- 1) All the electricity wires will be moved underground, which is commendable.
- 2) The 1.3 km stretch will be a non-motorised zone from 9 AM to 9 PM.
- 3) The decoration work will be done keeping Mughal architecture in mind.
- 4) To give it a Mughal-era feel, the place will be decorated with 175 red sandstone planters.
- 5) The new Chandni Chowk will also have 250 moulsari trees.
- 6) There will be LED lighting.
- 7) After the completion of revamp work, Chandni Chowk will become the first region in Delhi, restricted only for pedestrians, cycle rickshaws and e-rickshaws.
- 8) To accommodate 2300 cars, a multilevel parking facility is being constructed by the North MCD near Gandhi Maidan.
- 9) Chandni Chowk makeover project is costing around 90 crore.
- 10) Rehabilitation on ancient sewer lines is also a part of the project.
Hier ein paar >Bilder bei Google, wie es da wohl heute aussieht. Und hier dazu noch >ein Video bei http://www.thehindu.com
Wirklich beachtlich und Respekt, dass sie das durchgezogen haben.
Aber ich glaube, sie haben den Chandni Chowk kaputt gemacht …
Wunderbarer Text, der das Gewusel auf indischen Straßen sehr treffend beschreibt. Ich war nicht lange in Delhi, bin dort aber in einer Rikscha vorbei gefahren und das war mir zu Beginn meines Aufenthalts auch genug!
Danke wanderlustig fürs Lesen. Ja, das ist schon ein besonderer Ort und ich bin auch etwas zwiegespalten zwischen Bestandswahrung und der Entwicklung neuer Konzepte
Schöner Beitrag! Stillt (oder weckt erst neu?) mein Fernweh…
Danke Sarah, geht mir ähnlich. Schönen Sonntag!
Danke für das Wecken vieler Erinnerungen. Die Frage entweder alt lassen oder neu machen, ist sicherlich schwer zu beantworten. Aber glücklicherweise ist es ja nicht ausschließlich eine entweder-oder-Frage, auch wenn sie manchmal so beantwortet wird.
Danke Belana Hermine, ja ich denke, dass es sich irgendwie vorwärts entwickeln muss, auch wenn es nicht ganz in meine Erinnerungskiste passt. Hast du auch schon mal am Chandni Chowk in einer Pfütze gestanden??
Ich habe immer versucht, die Verweildauer möglichst kurz zu bemessen 😉
In der Pfütze oder in Delhi ? … ach ich bin so neugierig …. Ich weiß 😉
Eher in der Pfütze. Delhi an sich ist schon toll. Es rückt halt die eigene Perspektive mal wieder ein bisschen zurecht.
Oh ja, das tut es
Respekt, ob es wirklich ins Leben passt, wird man sehen; aller Versorgungsverkehr nach 9 P.M. macht sicher auch Spaß. Immerhin: sie haben es angepackt und durchgezogen. In Berlin stehen ähnliche Änderungen an, z.B. autofreie Friedrichstraße; die verstopft mehr die Nebenstraßen und die Friedrichstraße ist abgesehen vom aktuellen Corona-Blues kein bisschen charmanter geworden. Barcelona (ich war noch nicht dort) soll ja mit wirklicher Bürgerbeteiligung da gutes erreicht haben.
Danke Hermann fürs Lesen, ja das ist schon was besonderes, quasi erste Fußgängerzone Indiens … in 2021 …
Hallo, mich faszinieren die Fotos. Ich war in den 80er Jahren dort für einen längeren Zeitraum, wenn ich mir meine alten Fotos ansehe – kaum ein Unterschied nach fast 40 Jahren – unfassbar! Gut, die Autos und Motorroller sind moderner, aber die Häuser, die Menschen und das Gewusel, alles wie gehabt. Einfach toll, das Fernweh wird immer bleiben!
Ja, das glaub ich gern, dass sich da nicht viel verändert hat. Aber nun hat der Wandel zugeschlagen und kam mit einer Fußgängerzone im Gepäck. Das hätte in den 80er Jahren niemand für möglich gehalten. PS ich habe ehrlich gesagt vor 3 Jahren auch nicht …