Vorwort: Ich hatte mich ja auch schon kurz zum gescheiterten Volksentscheid ausgelassen und meine Enttäuschung ausgedrückt. Soviel kollektives Unwollen. Kurz darauf flog mir folgender Vorschlag für einen Gastbeitrag von Hermann in den Kasten. Und da er am Wahltag als „abstimmungshelfende Person“ mitten im Geschehen war, gebe ich gern etwas Sendezeit ab 😉
T.
(K)ein guter Tag für Berlin ? (Gastbeitrag Hermann)
Am 26.3.23 waren die 2,4 Mio. Berliner Wahlberechtigten aufgerufen, als Volk zu entscheiden, ob Berlin bereits 2030 statt 2045 klimaneutral werden soll.
Ich habe als abstimmungshelfende Person (frühere Bezeichnung Wahlhelfer) am Tag nach der geliebten Sommerzeitumstellung ab früh 7:00 Uhr geholfen, diese Abstimmung sicher und pannenfrei durchzuführen.
Bisher wurden Volksentscheide meistens mit einer turnusmäßigen Wahl verbunden, um den zusätzlichen Aufwand gering und die Beteiligung hoch zu haben.
Diesmal aber ein extra Termin, nur für diesen Volksentscheid; man wollte die Parlamentswiederholungswahl im Februar pannenfrei erledigen (verständlich) und – meine Vermutung – die Beteiligung am Volksentscheid nicht unnötig fördern.
Denn allen war klar: das Ziel ist ein richtig ganz, ganz, ganz großer Brocken und auch mit normalen großen Anstrengungen nicht zu schaffen. (in nur 6,5 Jahren!!).
Es ging ja nicht darum, ob der Fernsehturm neu angestrichen werden soll, sondern um die gewaltigen Klimathemen unserer Zeit.
Vorweg:
ich hatte per Briefwahl und mit „Ja“ gestimmt, in der Hoffnung, dass wirklich ein Ruck durch Berlin geht (der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hatte vor 25 Jahren einen Ruck durch Deutschland eingefordert). Wir hätten das Ziel 2030 vermutlich nicht geschafft, aber eben 2033 oder 2035 und damit etliche Jahre früher.
Über den Tag war die Besuchsfrequenz echt zäh, am Ende hatten wir nach 10 Stunden rund 170 Abstimmende begrüßen können, alle freundlich und korrekt.
Unser Wahlbüroteam waren (außer mir) alles in Wahlen schon recht erfahrene Leute, von ca. 30 bis 75 Jahre alt. Vor der Auszählung hatten wir die Vermutung, dass die meisten mit Ja gestimmt hätten, denn bei Ablehnung konnte man ja zuhause bleiben. Aber NEIN!
Die Auszählung ging zügig, völlig komplikationslos, alle Stimmzettel waren jeweils klar angekreuzt. Und der NEIN-Stapel wurde immer größer, am Ende deutlich mehr NEIN als JA-Stimmen. Das offizielle Berlin-Ergebnis ist bekannt.
Die beiden jungen Helfenden (sie Schriftführerin, er Beisitzer) waren spürbar bedrückt; ich alter Knochen konnte sie nicht trösten.
Mein Fazit: KEIN guter Tag fürs Klima, aber EIN guter Tag für die Demokratie, denn mehr als ein Drittel haben sich nach der blöden Zeitumstellung bewusst auf den Weg gemacht, ihre Meinung zu einer klaren Entscheidung abzugeben- Immerhin.
Ende Gastbeitrag Hermann
Liebe Leser, gern hier drunter kommentieren, Hermann liest mit und kann auch gern antworten 😉
Abstimmungshelfende Person. What a word!
Danke!
T.
Ach, ich will auch mal hier kommentieren.
Mir ist klar, dass Ziele „spezifisch, messbar, bla bla, realistisch“ sein müssen, muss mir keiner erklären. Der Senat hatte an der Stelle „gute“ Berater, denn die haben es geschafft, die Diskussion von „soll Berlin früher klimaneutraler werden?“ weggedreht in Richtung „geht das überhaupt?“. Nur das stand überhaupt nicht zur Debatte. Aber darüber konnte nun jeder Hobby-Ökologe wunderbar diskutieren … und war vielleicht auch ganz froh über die Gewissheit, dass das bis 2030 gar nicht geht.
Auf diese Weise lösen wir die Probleme nicht.
… und weil wir Menschen eher egoistisch veranlagt sind (und ein schwaches Schwarmverhalten haben), unsere jetzige Gesellschaft sich letztlich auf Eigentum und daraus folgend Gier aufbaut, reagieren wir kollektiv erst auf starke und spürbare Gefahren in unserer Nähe.
Trotzdem etwas Gutes zum eiugentlichen Thema:
Pressemeldung heute: Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen bis 2030 alles auf E-Antrieb umstellen, U-und Straßenbahn sind es ja schon dank großartiger Berliner Erfinder wie damals Siemens u.a. Jetzt fahren schon viele E-Busse, der Rest wird bis 2030 umgestellt und dann auch an den Endhaltestellen aufgeladen. Ein kopierbares Pilotprojekt für solche Busstromtankstelle wird in dem Bezirk erprobt, der bei der Volksabstimmung den größten Ablehneranteil hatte. — Gut so, es bewegt sich!
Das mit den mehr Nein- als Ja-Stimmen verwundert mich irgendwie nicht. Ich bin überzeugt, dass jede und jeder AfD-Anhänger bei einer Wahl ins Wahllokal trabt, um dort seine Stimme abzugeben und seiner Partei hilft, die 5%-Hürde zu schaffen oder noch höhere Ziele.
Und so war es jetzt eben auch mit den Nicht-Wollenden, die wollten wenigstens, dass ihre negative Stimme gehört wird.
Mir ist die Politik – nicht nur auf die Berliner Kommunalpolitik bezogen – schon seit langem viel zu kompliziert geworden.
Auch wenn ich keine Berlinerin bin, ich stimme dir komplett zu, dass die Stimmen der Nein-Sager oder der Dagegen-Wähler ständig unterschätzt werden. Nach dem Motto „Ich weiß zwar nicht wofür, aber ich bin dagegen!“ Die Motivation ist, Veränderung zu verhindern. Und dafür nehmen die Leute halt auch Wege auf sich. Während der Rest der Gesellschaft schon mal lässig denkt: „Geschenkt, das Ziel ist hehr, da werden schon genügend andere hingehen und dafür sorgen.“
Ich schäme mich seit mehreren Jahren fremd, weil bei kommunalen Wahlen immer wieder mehr als 10 % in meinem Dorf für die blaubrauen Alternative stimmen. Obwohl ich weiß, dass es zahlenmäßig immer eher ein sozialdemokratisch geprägter Ort war. Aber wir haben hier einerseits zwei ziemlich streng orientierte freikirchliche Gemeinden im Ort und andererseits viele muslimische Bewohner seit 2015. Und das war auch der Zeitraum, wo es kippte. (Obwohl sich aus der Freikirche auch viele bei der Flüchtlingsarbeit engagiert haben. Auch das muss gesagt werden. Sie haben es teilweise auch gleich mit Missionierung verknüpft.) Objektiv gesehen gibt es keinen Grund, es gibt sehr wenig Probleme mit den Muslimen, aber das hält zu viele Leute nicht davon ab, ihre Vorurteile zu pflegen.
Da besteht insgesamt, ob Migration, Klima oder andere Themen, vor allem viel Bedarf, die Leute mit der „richtigen“ Einstellung an die Urnen zu bekommen. Die sehen ihre Komfortzone anscheinend noch nicht so in Gefahr wie die Rechtslastigen. Schade.
Hallo Annuschka, ganz lieben Dank für deinen langen und sehr aussagefähigen Kommentar. Wahrscheinlich ist nicht nur Deutschland mit der gegenwärtigen Situation, die durch Kriege, Flüchtlinge und Klimaereignisse noch verschärft wird. Da wäre schon eine weitaus einheitlichere Politik als gegenwärtig in Deutschland vonnöten, um daraus noch einigermaßen was Gutes zu machen.
Für die Für-/Gegenstimmen habe ich ein Beispiel, was vielleicht nicht so ganz passend ist. Ich sehe sehr gern die Tanzsendung am Freitag bei RTL. Vorige Woche musste ein ziemlich gutes Paar ausscheiden, weil vielleicht alle gedacht haben, die bleiben 100pro drin und haben lieber das schlechteste Paar unterstützt, die dann tatsächlich drin geblieben ist.
Ich weiß schon, dass Klima wichtiger ist als Tanzen – aber schau’n wir mal, wie es so weiter geht. Ich kann nur hoffen, dass nicht alles Gute den Bach runter geht, weil die Kräfte der Ehrenamtlichen und Freiwilligen erlahmt sind.
Ich wünsche dir ein schönes Wochenende. Mit Gruß von Clara