Für den ersten Beitrag dieser neuen Kategorie >Akteneinsicht, juckt es mir natürlich in den Fingern, gleich mit dem Wendejahr 89/90 zu beginnen. Darüber wird ja in diesen Tagen viel geschrieben und gesendet. Aber der Umbruch in der DDR begann ja bekannterweise nicht mit der Pressekonferenz und dem Gestammel von Günther Schabowski, sondern es rumorte ja schon vorher deutlich. Daher fange ich mal mit dem Jahr 1987 an. Da wurde ich 11 Jahre alt und aus familiären und biologischen Gründen entwickelte sich auf meinem Hals so langsam ein selbstdenkender Kopf.
Was sonst geschah:
Ein deutscher Hobby-Pilot landet auf dem roten Platz in Moskau, Reagan besucht West-Berlin, Honecker das verschlafene Bonn, die beiden Berlin‘s feiern jeweils das 750-jährige Stadtjubiläum, man versuchte sich am gegenseitigen Entspannen und verwöhnte das Volk an der Berliner Mauer mit Musik (David Bowie, Eurythmics und Genesis). Je nachdem, wo man aufgewachsen war, konnte man sie sehen oder nur hören.
Leider habe ich damals kein Tagebuch geführt, Blog gab’s ja noch nicht, aber jeder Schüler war verdonnert, ein Hausaufgabenheft zu führen. Die habe ich ab Klasse 5 aufgehoben. Keine Sorge, ich schreibe das jetzt hier nicht komplett ab, picke aber ein paar interessante Stellen heraus. Nicht das banale „Turnbeutel vergessen“, sondern Passagen aus dem noch „heilen“ sozialistische Schul-Alltag, aber auch schon erste Anzeichen von Rebellion gegenüber dem pädagogischen Personal.
Also, genug der Vorrede. Los geht’s. Meine persönlichen Einträge schreibe ich hier in normaler Schrift, die von Einträge von Lehrern mache ich fett, heutige Kommentare fasse ich in kursiv.
<<Deckblatt>>
Hausaufgabenheft
Name des Schüler: T.
Klasse: 5
*Madonna* IC Modern Talking
(Aufkleber hatte ich damals noch nicht … nur Filzstifte)
<<Hausaufgaben>>
07.09.1987 9:35 Uhr auf Hof antanzen
12.09.1987 Hefter und Atlas vergessen.
21.09.1987 Atlas und Heft vergessen. (solche Einträge, wiederhole ich von jetzt an nicht mehr)
23.09.1987: Versammlung zur Vorbereitung der Gruppenratswahl, 14:15 Uhr antanzen !!!! (Gruppenrat war so etwas wie Klassensprecherkollektiv, nur eben als Gruppe und „demokratisch“ gewählt)
30.09.1987: Gruppenratswahl 14:30 Uhr !!!!!!!!
01.10.1987: ungenügende Pausendisziplin (das war doch noch jar nüscht)
14.10.1987: Unterrichtsdisziplin sehr schlecht, Freundschaftsratswahl 15:00 Uhr! (Vergleichbar mit der heutigen Schülervertretung, nur stramm sozialistisch)
06.11.1987: 07:20 Appell / Pionierkleidung
18.11.1987: Fest der russischen Sprache
19.11.1987: Milchgeld 5,70 M
20.11.1987: T. zeigt in letzter Zeit ein recht vorlautes Benehmen!
27.11.1987: Milch-Geld: Vanille 3,61 M, Frucht 3,80 M, Kakao 6,65 M, Joghurt 6,65 M, Vanille, 5,70 M, Schoko 9,50 M (Einträge zum Milchgeld wiederhole ich nun auch nicht mehr)
14.12.1987: T.‘s Verhalten ist sehr flegelhaft. Oft stört er durch lautes Dazwischenreden
<<Mitteilungen>>
Für Beteiligung am BZA-Lauf erhielt ich ein Lob.
Da ich gegen die Schulordnung verstoßen habe und trotz Belehrung im Deutschraum getobt habe, erhielt ich eine Verwarnung.
01.12.1987: Weihnachtsveranstaltung Palast der Republik
<<Schlussblatt>>
Madonna = „Herz“ Jennifer Rush
—> 3) Akteneinsicht 1988: Altstoffe und nasse Lappen
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Waehrend ich das ganze Jahr 1987 in der Karibik verbracht habe durften andere Leute die Vorzuege oder auch Nachteile des Sozialismus geniessen. Den Sozialismus gibt es immer noch in der Karibik, aber nur auf Kuba. Der Rest der Region ist inzwischen der Gesetzlosigkeit verfallen die wahrscheinlich noch schlimmer ist als der Sozialismus des Erich Honnecker. Irgendwann zu dieser Zeit trat der Erich auch als Dichter auf. Wann genau ist mir leider entfallen, aber ich erinnere mich noch genau an seine Worte:“Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“Wahrscheinlich war der Erich der Esel der dafuer gesorgt hat dass viele Leute jeden Montag in Leipzig demonstrierten weil Sie nichts mehr mit der Ueberlegenheit des Sozialismus zu tun haben wollten.
Eine Verwarnung war ja noch relativ harmlos – ich habe in der Grundschule oft mal einen Tadel gefangen, der war schon so, dass meine Mutter streng das Gesicht verzog. – Mein Sohn ist ja 5 Jahre vor dir zur Schule gegangen – leider haben wir da nichts aufgehoben.
Ach so, so eine warst du … hast Tadel gesammelt … aha … aha … na los … schreib mal wofür 😉
Bei Tadeln kann ich mich nur an einen genau erinnern. Ich saß fast immer in der letzten Reihe. Und ich hatte mit den anderen gewettet, dass ich mich traue, die Füße auf die Bank vor mir zu legen. Die Wette habe ich gewonnen.
Was für eine Dreistigkeit. Heute, interessiert, das glaube ich keinen mehr, die sitzen da alle so
Interessant, dass du dies alles aufbewahrt hast. Ich habe meine Schulsachen fast ausnahmslos entsorgt. Tadelheft – einfach schrecklich! Sowas habe ich nie gehabt. LG Irène
Diese „Einträge“ der Lehrer und Maßregelungen wurden direkt im Hausaufgabenheft vorgenommen … und sie waren kaum vor den Eltern zu verheimlichen. Auf die Idee, ein Zweitheft zu führen, kam ich blöderweise nicht.
Dieses Konzert mit Bowie, Eurythmics und Genesis… Ich habe es gehört. Und gesehen.
Ah krass, das war ein mehrtägiges Festival was ich so gelesen habe. Ich war ja noch zu jung … und auf der falschen Seite, um das besuchen zu können. Aber ich konnte Bowie 2002 in Berlin noch mal sehen
Ja, es ging Freitag mit Bowie los, Samstag Eurythnics mit Bruce Hornsby als Vorgruppe und Sonntag mit Paul Young und Genesis. Es war großartig.
Und ich sah ziemlich wild aus.
Also ich sehe schon: Die ersten Kapitel Deiner Autobiographie. Mach weiter, das ist spannend – und das meine ich, wie ich es schreibe!
Es gibt durchaus ein Werk, was 1991 beginnt, dieses setze ich nun zeitlich davor. Hat Star Wars ja auch gemacht 😉
Ich hänge noch einen dran: Gerade lese ich die Autobiographie (posthum veröffentlicht) von Nawalny – der ist Dein Jahrgang! Extrem interessante Einblicke in sein persönliches und politisches Werden im sich wandelnden System.
Ja, das steht bei mir auch auf der Liste, ich schau mal, ob ich’s als Hörbuch kriege.
Spannend. Nicht nur deine vermeintliche „Disziplinlosigkeit“, sondern generell die Einsichten in den damaligen DDR-Schüleralltag. Als im Saarland geborene und aufgewachsene „Wessi“ kenne ich das ja nicht. David Bowie hingegen konnte ich 1987 auf der aus deiner Sicht anderen Seite der Mauer hören und sehen.
Es gab auch genau so ideologisch befreiten Unterricht, bei Mathe, Physik und Bio gibts ja eigentlich nicht so viel zu diskutieren … obwohl … irgendwas ging da schon. Ich konnte Bowie dann Anfang der 2000 in Berlin noch mal sehen, als Katschutz-Zivi und Sanitäter in der ersten Reihe. Und den Boss auch. Ganz groß und nahe 😉
An das Layout der Hausaufgabenheftseiten erinnere ich mich auch noch. Betragenstechnisch habe ich es zwar nicht zu Bestnoten geschafft, aber auch nicht zu Hausaufgabenhefteinträgen. Allerdings stand da öfter drin, was ich nicht so alles vergessen hatte, mit in die Schule zu nehmen…
Rückwirkend nehme ich es positiv, dass so viel Energie in mich investiert wurde
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das auch positiv gemeint war. Die Lehrer/innen fühlten Verantwortung für die Schüler/innen. Vielleicht manchmal ein bisschen viel und ein bissche zu einseitig, aber doch überwiegend hilfreich.
Ich kriegte keine Infos zu meinem Sohn aus der Schule (hier im Westen) – nur am Elternsprechtag gesagt, dass alles ja kein Wunder wäre bei einer voll berufstätigen Mutter. Schuldige gefunden – yepeeh.
aktuell gehört es ja noch mit zu meinen Aufgaben, die Kids zur Schule zu motivieren … aber ganz ehrlich … leicht fällt mir das nicht
Ist immer gut, wenn sich mehrere Leute dieser Aufgabe annehmen. Nur die Eltern haben es ab einem gewissen Alter der Kids wirklich schwer, wenn sie das allein schultern sollen. Ich wünsche ich äußerst gutes Gelingen.