484) Die Zahlen müssen sinken?

Ich habe zwar mein Nachrichten-Konsum in der Menge reduziert, aber ich höre schon noch genau zu, was da gesagt wird. Und da fallen mir in den letzten Wochen zwei Veränderungen in der Wortwahl zur Migrationsdebatte auf, die mir irgendwie aufstoßen:

1. „Irreguläre Migration“:

Wetterte man vor Monaten noch gegen „illegale“ Migration, hat man nun festgestellt, dass Migration per se erst mal gar nicht illegal sein kann, denn das müsste ja erst mal geprüft werden. Aber dann sind die Menschen ja schon im Land und das will man ja nun gar nicht, weil wir bei der Integration heillos überfordert sind. Und weil nun auch die Parteien der „Mitte“ in den Singsang einstimmen müssen, damit die Wähler nicht zur AfD rennen, sprechen sie nun eben von „irregulärer Migration“, die es zu reduzieren gilt. Also Menschen, die flüchten, sollen nur noch einen „regulären“ Weg nehmen (was auch immer das ist) oder sich erst gar nicht auf den Weg machen, es sein denn es gibt einen EU-Außenposten an der Nordküste Afrikas, der die Legalität bescheinigt. Denn dann kann man auch regulär first class Lufthansa fliegen, zahlt immer noch weniger als für Schleuser und das Gepäck ist sogar versichert. Ha. Ha.

Die zweite Formulierung kommt in den letzten Tagen wieder häufiger und erinnert mich an wildeste Corona-Zeiten.

2. „Die Zahlen müssen sinken“

Insbesondere im Zusammenhang mit der letzten Ministerpräsidenten-Konferenz, kam diese Formulierung wieder hoch. Auch in ähnlicher Form in … „wenn die Zahlen nicht deutlicher sinken …“ oder .. „die Zahlen im Frühjahr wieder sinken…“ . Wenn man das Wort „Menschen“ vermeidet und nur noch von „Zahlen“ spricht, dann geht das scheinbar einfacher über die Lippen. Das Wort „Sinken“ will ich in dem Kontext gar nicht erst aufgreifen.

Aber das ist auch noch alles nicht aussagekräftig genug. Ich warte eigentlich nur darauf, dass wir nun endlich auch ein paar Kennzahlen entwickeln. Darauf stehen wir doch irgendwie, oder? So eine schöne Migrations-Inzidenz vielleicht, oder einen M-Wert oder ein M-Ampelsystem, damit wir das dann auf eine Deutschlandkarte pappen können und sehen, wer denn seine M-Abwehr-Ziele einhält und wer nicht. Dann können wir uns dieses Bild jeden Abend in der Tagesschau angucken, mit dem Finger auf die anderen zeigen. Wir können unsere Reisen ins benachbarte Bundesland abblasen, wenn das Traumhotel von Afrikanern belagert wird.

Dann fehlt eigentlich nur noch, dass wir einen M-Stoff entwickeln, alle M-asken vom M-arkt kaufen und jeglich erdenkliche M-aßnahmen einleiten, damit wir uns die fremden Leue vom deutschen Hals halten. „Flatten the M-Kurve“ kommt dann sicher auch noch. Das regt mich auf und es is so kurzsichtig.

Warum können wir nicht mal „steigende Zahlen“ anstreben und darüber reden?

Zum Beispiel eine steigende Anzahl Wohnungen für alle, eine steigende Zahl von absolvierten Deutschkursen, eine steigende Anzahl S-Bahnfahrten die nicht wegen Personalmangel ausfallen, eine steigende Anzahl von Pflegern/Ärzten aus Syrien, eine steigende Anzahl Solar-Panel-Installateure aus Sudan, eine steigende Anzahl Busfahrer aus Afghanistan, …

Warum scheint hier Vieles auf Abwehr aus zu sein, statt zu überlegen, wo uns diese Leute bei unseren tausenden Herausforderungen helfen können??

Will mir nicht in den Kopf …

226) Tram Camouflage

Neulich kam ich von einem gemütlichem Kneipenabend und wartete am Alex auf eine Tram. Gedankenversunken starte ich vor mich hin und liess unsere bunte Stammtischdiskussion zu den Themen der Zeit rekapitulieren. Nichtsahnend … erschien plötzlich … ein Soldat … direkt vor mir. Bewaffnet, 2,50 Meter groß, blond und kurze Haare, Blick geradeaus. Stillllllgestandääään!

Drei Dinge „schossen“ mir durch den Kopf:

  • Wo kommt der denn auf einmal her?
  • Muss ich jetzt etwa aufstehen?
  • Holen die mich jetzt doch noch?

Aber der große Blonde stellte sich schnell als Klebefolie heraus und mir fiel ein, dass ich den schon mal in der Stadt gesehen hatte. Aber noch nie stand der so direkt und übergroß vor mir. Die Bahn bimmelte und der große Blonde fuhr wieder ab, genauso wie er gekommen war. Wegtreten!

Ich aber, blieb da auf der Bank sitzen und beschäftige mich mit Erinnerungen:

Mitte der 90-er Jahre … Post vom Kreiswehrersatzamt … Musterung … Wehrpflicht  … konnte die Einberufung mit einem legalen Trick herauszögern … aber das würde niemals bis zur möglichen Abschaffung der Wehrpflicht reichen … schrieb dann eine herzzerreissende Begründung für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer … was letztlich auch klappte.

„ Sie sind berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Bescheid ist unanfechtbar“

Das stand da schwarz auf weiß auf einem Papier … welches mich aber umgehend zu anderweitigem Dienst am Land verpflichtete. Und es bestand ja immer noch die Möglichkeit am Kriegsdienst „ohne“ Waffe.

Und warum nun dieser Beitrag hier?

  1. Ich denke, ein gewisser Dienst an der Gesellschaft (… und ich sag jetzt mal ganz bewusst nicht „Vaterland“) finde ich gar nicht schlecht und würde Jungs UND Mädels gleichermaßen gut tun.
  2. Ich bin heilfroh, dass die Jungs heute nicht mehr in die Kasernen einrücken müssen, um zu lernen, wie man auf Menschen schießt. Aber, bitte nicht vergessen, die Wehrpflicht ist m.W. nur ausgesetzt, nicht abgeschafft.
  3. Ich finde es immer noch absolut deplatziert, dass der Flecktarn-Laden mit großflächiger Werbung und markigen Sprüchen an öffentlichen Verkehrsmitteln seinen Nachwuchs rekrutieren will. Geht meiner Meinung nach überhaupt nicht.

Rührt euch!

73) R.I.P. Gespräch

Noch ist es zu früh, den letzten Gruß unter den Nachruf zu setzen. Aber man kann sich schon mal ein paar Notizen machen, damit es dann schneller geht, wenn es wirklich mal so weit ist.

Nein, es geht hier nicht um den Eisbär, auch nicht um den Regenwald oder einen Gletscher. Heute geht‘s … um … das Gespräch. Genau. Das Gespräch.

Vor tausenden Jahren wurde aus einem urzeitlichen Grunzen ein Wort, daraus ein Satz und später ein Dialog. Die Menschen saßen am Feuer, hatten weder Zeitung, noch Glotze, Netflix und What’s App. Also Reden.

Und wie ist das heute? Tja, wir bewegen uns wieder rückwärts:

  • Das Flug-oder Bahnvolk sitzt zwar stundenlang Schulter an Schulter, bekommt aber nicht mal ein „Guten Tag“ über die Lippen. Stattdessen hängen sie nur über Laptop, Handy oder Tablet. Der längste Satz von Mitreisenden ist: „Ich muss mal da durch“. Gern‘ doch, bitte sehr! Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da hatte man mangels Daddel-Kasten wirklich fremde Menschen auf dem Nachbarsitz angesprochen. „Na, und wollen sie hin?“ oder „Was machen sie denn so beruflich?“ oder „Saßen Sie nicht schon letzte Woche hier?“ Da würde man heute bereits wegen Social Engineering verklagt.
  • In den großen Politik-Talk-Shows müssen die Kontrahenten in kürzester Zeit ihren Standpunkt rüberbringen und dem politischen Gegner noch einen Leberhaken austeilen, bevor die Redezeit zu Ende ist. Eigentlich ist es die Aufgabe des Moderators, inhaltsloses Gelaber der Gäste zu beenden und wieder aufs Thema zu lenken. Mittlerweile grätschen die aber schon nach den ersten Sätzen in die Argumentation, werfen mit Fakten-Check, Video-Schnipseln und Social-Media-Zitaten um sich. Gruselig.
  • Am Freitagabend, ab 22:00 Uhr dagegen, soll es etwas lockerer zugehen. Prominente plaudern aus ihrem Leben. Das lässt sich zwar leicht verdauen, kann aber auch sehr ermüdend sein. Zum einen, weil man nicht weiß, ob der interessante Gast, bereits dran war oder erst kurz vor Mitternacht sprechen darf. Zum anderen, weil sich kein vernünftiges Gespräch ergibt. Während ein Gast antworten darf, hocken sieben andere daneben, trinken Wein, naschen Käsecracker und tun ganz interessiert.

Zum Glück gibt es noch wenige Formate, die da hoffen lassen. Da treffen sich zwei Menschen, sitzen gegenüber und reden eine Stunde lang. Das Gespräch gewinnt an Tiefe. Keine Werbung, keine MAZ, einfach nur so reden. Wie früher am Feuer. Großartig, erhellend und inspirierend. Mehr davon bitte!

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