378) Entbunden

Auch wenn ich im Urlaub bin, schaffen es die beruflichen Social Networks dann doch irgendwie, dass ich da mal reinschaue. Und mit etwas mehr Distanz, da wirkt dieser Zirkus erst recht etwas schräg.

Aus einigen wenigen Beiträgen kann man ja noch was mitnehmen, aber der Großteil ist eher nur Selbstdarstellung, Getöse und Oberfläche. Selfies von belanglosen Treffen, halb-gare Managementweisheiten und irgendwelche Badges weil Hinz jüngst einen Kurs absolviert und weil Kunz während der Elternzeit mit Kinderwagen und Laptop unterm Arm einen Marathon läuft und nebenbei Japanisch lernt.

Sucht die Menschheit nicht Ideen, wie man Energie einsparen kann? Voilà ich wüsste da eine. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man sich da eine Visitenkarte ins Netz stellt und somit Kontakte ermöglicht, aber muss man so viel Dünnflüssiges mit allen teilen? Können die das nicht untereinander auskaspern? Also ich bin erst einmal logged off, linkedout, ausgexingt, delinked, unlinked, disconnected, habe mich im Urlaub vom Lesen weiterer Posts entbunden.

Apropos „entbunden“

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel wusste am 01.11.2022 zu berichten, dass Tagesschausprecher fortan von der Krawattenpflicht befreit sind. Aber zunächst erst einmal nur nachts. Na immerhin. Ein der Zeichen der Lockerung, denn sind sie nun vom Binder entbunden ohne jemandem auf den Schlips zu treten, wenn sie in der Nachtschicht um 01:30 Uhr die Nachrichten das Tages verlesen. Ich habe ja vor ein paar Jahren auch noch Krawatten getragen, aber als die Jungspunde um mich herum zunehmend „oben ohne“ erschienen, oder sich auch CEOs und Staatenlenker ganz ungebunden ohne Strick ablichten liessen, habe ich fast alle Krawatten entsorgt.

Interessant finde ich an der Geschichte, dass sich Männer in den oberen Gehaltsgruppen von der unpraktischen Seide befreien können, während sich ihre Leidensgenossen in den weniger bezahlten Jobs aber weiter zugebunden geben … müssen. Warum tragen alle Südostasiaten, die hier im Hotel die mit Eigelb und Schoko-Creme verschmierten Frühstücksteller abräumen, bitte Krawatte? Mögen die das? Hat die einen praktischen Nutzen? Fühlen sich ihrem Brötchengeber so verbunden? Oder dient das nicht allein der Klarstellung „Ich Gast und frei, du Personal und hier angebunden“.

Vom modischen Halsgebinde zum Halseisen …

368) Absolute Ereignislosigkeit

In der letzten Woche habe ich den Jungs von „Alles gesagt?“ zugehört, während sie Rezo im Gespräch hatten (Aufnahme von 2019). Nach 8,5 Stunden bin ich zwar kein großer Rezo-Follower, aber es war schon mal interessant zu hören, wie der so denkt und wie die Welt von YouTube, Facebook, Insta, Tik Tok … Bacefook, KnickKnack, FickFuck, TipTop … so tickt und rockt.

Am Rande ging es kurz um den Begriff „Absolute Ereignislosigkeit“ und die drei Jungs machten eine kurze Reise ins Mittelalter. Einer Zeit ohne Strom, Medien und künstlichem Licht. Dafür aber reich an Arbeit, Dreck, Krankheiten und nur von kurzer Lebenszeit für die Menschen.

Sie wurden mit dem Tageslicht oder dem Hahnenschrei wach, machten sich irgendwie frisch, um dann den ganzen Tag zu schuften. Nach der Arbeit für den Fronherren wurde dann vermutlich zu Hause weitergearbeitet. Essen machen, Wäsche waschen, Reparatur- und Näharbeiten usw. im Licht von Öllampen, Fackeln oder Herdfeuer. Vielleicht sangen sie noch was oder erzählten Geschichten. Spielten ein Instrument, tanzten, beteten aber das war es dann auch schon. Auf keinen Fall wischten sie auf einer Glasplatte herum und folgten Ereignissen irgendwo auf der Welt. Kein Bling, kein Plop. Es gab für sie schlichtweg kaum Einflüsse von außen. Außer Hexenverbrennungen und Ritterspielen, gab es auch keine „Events“, wo man sich mal ein paar coole „vibes“ abholen konnte. Außer dem Kopf des Delinguenten „smashte“ da aber so gar nichts „Digga“. Die „Influencer ihrer Zeit waren der Leibherr, vielleicht kannten sie noch den Namen des Fürsten oder den vom Papst. Ihre „News“ erhielten sie über‘s Hörensagen auf dem Marktplatz und wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen landeten war dann mit circa 40 Jahren eh meist Schluss. 

Ich wäre also vermutlich schon unter der Erde, die Kirche hätte mich gegrillt. Beidseitig, so viel ist sicher.

Vor ein paar Jahren habe ich mal mit dem Gedanken gespielt, mich für ein paar Tage/Wochen allein auf einer schwedischen Insel einzuquartieren. Solche Objekte gibts dort. Insel, Haus, Boot. Das war’s. Als es konkreter wurde, habe ich dann aber Muffensausen bekommen. 

Denn was passiert, wenn man tagelang disconnected und ohne Aufgaben ist? Spricht man dann nur noch mit sich selber? Kommt einem irgendwann die große Eingebung, die im Alltag nicht durchdringen kann? Oder dreht man dann einfach durch, nascht giftige Beeren und dann ist halt Schluss. 

„Lagom är bäst“, wie der Schwede zu sagen pflegt?

Die bekannte Datenkrake findet für den Begriff „Absolute Ereignislosigkeit“ nur 91 Treffer. Wundert mich nicht. Aber nun sind es immerhin 92 😉

Ich schließe den Beitrag mit ein paar Zeilen aus „Too many friends“, von Placebo, live gespielt am 06.10.22 in Berlin. Großartig.


This is my last communique
Down the super highway
All that I have left to say in a single tome

If I could give it all away
Will it come back to me someday?
Like a needle in the hay or an expensive stone