Nach der für Berlin wiederholten Bundestagswahl ´21 (im Februar ´24) stellt unter anderem der Tagesspiegel die Wahlergebnisse vor und leitet ein mit dem Satz … „Finden Sie heraus, wie sich die Ergebnisse in ihrer Nachbarschaft verändert haben.“
Das interessiert mich natürlich:
Während unser Kiez sattgrün erscheint (36% bis teils 48%) kommen zwei Stimmbezirke nordwestlich in einem deutlichen „blau“ daher. Dabei liegt das Wahllokal gerade mal 1 km Luftlinie weit weg. Natürlich müssen solche politischen Farbwechsel ja irgendwann auf der Karte folgen, sonst lebten wir ja in einer Diktatur.
Aber warum gerade da? Was ist da anders? Es ist die selbe Luft, die wir atmen, die selbe S-Bahn Linie der wir anliegen, die selbe Tramlinie, die wir nutzen, vermutlich gehen die Kids sogar in selbe Schulen.
Ein paar Erklärungsversuche … (weder soziologisch noch statistisch abgesichert, sondern nur Vermutungen):
Markierung 1 hält 2200 Wähler bereit, ist geprägt von saniertem Altbau, 4-5 Etagen hoch, ein Mix aus Miete und Eigentum. Der Kiez drumherum ist historisch gewachsen, hat den zweiten Weltkrieg schwer durchlöchert überstanden und ist nach der Wiedervereiniging bereits zweimal gentrifiziert worden. Ein großer Teil der Anwohner stammt nicht „von hier“, sondern ist aus dem Bundesgebiet hergezogen. Der Familien-und Kinderanteil ist recht hoch, es gibt Orte zum Verweilen, Kiezläden, Spielplätze, Restaurants, Türkische Gemüse-Läden, Döner, Bäcker & Co. und auch natürlich den klischeebehafteten Latte Macchiato kriegt man hier an jeder Ecke.
Nun zum Wahlkreis nördlich von 1 (markiert mit 2). Das Gebiet ist flächenmäßig, deutlich kleiner, hält aber ähnlich viele Wähler bereit (2130). AfD-Ergebnis 23,7%. Sind das nun alles Nationalisten oder Nazis? Nein, die Linke kommt auf 20,6%, also wäre ein ähnlicher Anteil den Sozialisten/Kommunisten zuzuschreiben. Wieso wählen dort knapp die Hälfte der Menschen an den politischen Rändern? Was ist da anders? Zum einen sicher die Bebauung. Einige Elf-Geschosser stehen an viel befahreneren Straßen. Ich kenne die Bewohner-Struktur der Hochhäuser nicht, aber ich gehe mal von aus, dass es keine Vielverdiener sind, und ich geh mal auch davon aus, dass ein gewisser Anteil aus anderen Ländern stammt. Daraus resultiert eine unbequeme Dichte, sicher auch Spannungen im Leben miteinander. Das Viertel ist mir nicht als sonderlich einladend bekannt, im Wesentlichen fährt man dran vorbei … weil man wo anders hin will.
Kommen wir zu Gebiet 3. Der Wahlkreis ist flächenmäßig deutlich größer, hat circa 2400 Wahlberechtigte und auch hier punktet die AfD mit 23 %. Auf der linken Seite des Wahlkreises setzt sich die Baustruktur von Gebiet 2 fort (Hochhäuser). Der rechte Teil ist eher grün, geprägt von einer Kleingartenanlage (wo ja normalerweise keiner wohnt und wählt) und viele Einfamilienhäuser. Ja Einfamilienhäuser mitten in der Stadt! Eine sehr beliebte Wohngegend, fast dörflich, wo man sich schon zu DDR-Zeiten fragte, wie man wohl an so ein Objekt kommen kann. Wer da wohnt, zieht nicht freiwillig weg, sondern setzt sich fest und vermacht das Eigentum in der Familie. Aber warum nun gerade da AfD? Da nagt doch keiner am Hungertuch, noch steht mittendrin eine Container-Dorf für Migranten.
Theorie A. Die Struktur ist dort sehr konservativ unterwegs, bloß keinen Wandel, bloß keinen Zuzug, jeder sorgt für sich und vererbt die Hütte am besten steuerfrei.
Theorie B: die Wahlergebnisse werden aus dem Neubau-Block links überlagert. Auch wenn das Gebiet links deutlich kleiner ist, würde ich mal sagen, dass 75 % der Stimmen von dort stammen. Man müsste genauer nachfragen.
Aber trotzdem, warum AfD? Das Wahlprogramm der AfD von 2021 ist nun wirklich nicht mit sozialen Wohltaten vollgepackt und der Fokus steht auf Arbeiten und Eigeninitiative.
Zitate:
„Wer arbeitet, wird auf jeden Fall mehr Geld zur Verfügung haben als derjenige, der nicht arbeitet, aber arbeitsfähig ist“.
„Der bisherige soziale Wohnungsbau ist gescheitert, er kann nur einen Bruchteil der Berechtigten erreichen. Er führt zu Fehlbelegungen und verursacht hohe Kosten für den Steuerzahler“ … stattdessen soll Deutschland „ein Land von Wohnungseigentümern werden“.
„Die AfD steht für ein ausgewogenes Mietrecht und lehnt staatliche Überregulierungen sowie Investitionshemmnisse wie die Mietpreisbremse oder den Mietendeckel ab.“
„Als gezielte Maßnahme gegen Wohn und Obdachlosigkeit“ schlägt die Partei „die sofortige Einführung einer bundesweiten zentralen Statistik zur Erfassung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit“ vor.
Haben die Wähler das Papier vorher komplett gelesen?
Titelbild, basierend auf Screenshot von Tagesspiegel-App
https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/wahl-wiederholung-bundestag-2024-berlin-karte-historische-ergebnisse-wahlkreisergebnisse-stimmbezirke/