685) Als die Sommer noch schwarz-weiß waren

Sommer scheinen heute der Höhepunkt des Jahres zu sein, nichts darf schiefgehen, nichts darf dem Zufall überlassen werden. Alles muss bombastisch sein, da wird das Dinner fotografiert und auf Insta „gepostet“, das Apartment wird „geliked“ und die Experience für den Day Trip mit Sternen rauf-oder herunter „gerated“. Dann noch ein „Selfie“ am Rand der Klippe und noch eines kopfüberhängend in der Schlucht über dem Maul des Krokodils, für den WhatsApp-Status. Und dann ist wieder alles ganz schnell vorbei.

Früher, als die Sommer noch schwarz-weiß waren, da waren sie länger, obwohl doch eigentlich viel weniger los war.

Wenn die Ferien auf den Rücksitzen begannen, eingequetscht zwischen Taschen, Thermoskanne, Hansa-Keksen, feuchten Lappen und Leberwurstbrötchen, wenn es sehr gut lief mit Boulettchen oder Schnitzelchen und Senf auf Steinbänken am Restplatz … mit Klo im Wald.

Und dann das quälende „Leiseseinsollen“ in den endlosen Mittagspausen, auf der Hängematte oder Liege lümmelnd und den Krüppelkiefern beim Wanken und rauschen zusehen, bis endlich jemand „Kaffeeeeeee und Kuchen“ rief und damit die zweite Hälfte das Tages einläutete.

Wenn am Badesee das nächste Spiel ausheckt wurde. Fangen, Tauchen, Reiterkampf, untereinander durchtauchen,  … um dann irgendwann schlotternd mit blauen Lippen von den Eltern herausgerufen zu werden. „Mach mal Pause Kind, magst du einen (sandigen) Keks?“

Und allein mit dem Fahrrad, die nächsten Dörfer abzufahren, durch sandige Wälder, an Bahngleisen entlang, ohne Helm, Navi und Handy, nur mit der Bitte der Eltern im Ohr „Pass auf dich auf, komm‘ heil zurück!“

Oder mit anderen Kindern im Bus auf großer Fahrt, ohne Klima-Anlage, Podcast oder Video-Konsole. Gab‘s im Bus mal Musik war das schon was Besonderes, ansonsten blieb nur „Singen“, „Mau-Mau“, oder „Ich sehe was, was du nicht siehst“.

Wenn es auf dem Weg zum Speisesaal, nach Brühe, Linoleum und Früchte-Tee aus dem Kessel roch und in verschiedenen „Durchgängen“ gegessen wurde, was auf den Tisch kam … oder halt auch nicht. „Wat‘ anderet jibs nich‘.“

Und das ganze Ferienobjekt nur einen Fernseher hatte, und dieser verschlossen in einem dunklen Rollschrank des „Klub-Taums“ verstaut war, dessen Schlüssel vom Hausmeister verwaltet wurde und nur der entschied, welches der wenigen Programme eingeschaltet wurde … und blieb.

Als es im Ferienlager nur eine Tischtennisplatte und zwei Kellen gab und trotzdem 20 Kids schlangestanden und bei Chinesisch ihre Punkte machen konnten, in dem die Kellen nach und nach durchgereicht wurden.

Wenn es dann nach Frühsport, Probe-Alarm, Neptun-Fest, Nachtwanderung sogar noch „Disco“ gab … mit einer langsamen Runde mittendrin … ach ja … das war doch schön.

Also, auch wenn sie nur schwarz-weiß waren und später dann lila-rötlich wurden, bleiben diese Sommer doch sehr bunt und lebendig im Kopf.

Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade „Sommer“ von Sarah Zöllner. Noch bis zum 31. August kannst du teilnehmen.

-1) Akteneinsicht: Über Bande

Es ist nie zu spät, Reue zu zeigen und sich an den Rand der Selbstanzeige zu bringen.

Dieser Beitrag führt mich zurück in die Mitte der achtziger Jahre, lass es 1988 gewesen gewesen sein oder so. Und da der Beitrag zeitlich vor dem >Prolog zur Reihe „Akteneinsicht“ liegt, bekommt er die Nummer -1, ein Prequel quasi, das machen Drehbuchschreiber auch hin und wieder, wenn ihnen nach Drehschluss noch was einfällt. 

Wie es sich für junge Staatsbürger der DDR gehörte, waren die meisten von uns bei den Pionieren organisiert. Man hätte sich auch dagegen wehren können, aber nun ja … hätte hätte Halstuchkette. Aber das war nur die offizielle Organisation, so „richtig“ organisiert war man nur in einer „Bande“, etwas später dann auch „Gäng“ genannt. Eine handvoll Jungs, die sich die Treue schworen und fortan füreinander da waren, um durch dick und dünn zu gehen.

Und wie es sich für gut erzogene Jung-/Thälmann-Pioniere gehörte, gab es bei uns auch schnell ein Statut und eine Gruppen-Kasse, bei der immer unklar blieb, was mit den Beiträgen eigentlich geschah, nachdem sie beim Treffen vor dem Schulhof vom Banden-Chef kassiert wurden. War ich Banden-Chef, nein das widerspricht meinem Naturell, vielleicht war ich der eher „Stabs-Chef“ oder die „Strategie-Abteilung“ … dafür hatten wir aber noch keine Wörter parat.

Die Alltagsbeschäftigung unserer Bande bestand nicht daraus irgendwelche Gangster zu jagen, denn die gabs es damals nicht. Wir hatten andere Aufgaben:

  1. Über die Hinterhöfe ziehen, Heimlich rauchen, Cabinet, Club, F6, Alte Juwel, je nachdem was Väter oder ältere Brüder der Gang-Mitglieder so im Schrank liegen hatten.
  2. „Spicken“ spielen, so nannten wir das Spiel mit Taschenmessern, die man dem Gegenüber vor die Füße in den Boden warf … und hoffentlich nie die „eigenen“ guten Turnschuhe traf. Denn das hätte Ärger gegeben.
  3. Zündplätzchen im Zauber-oder Spielzeugladen auftreiben, dann draußen sofort mit Kronkorken oder Glasscherbe zünden.
  4. Modell-Flugzeuge mit „Duosan“ (Flüssigkleber) füllen, dann noch 3-4 mal tief einatmen … genießen … bevor man die Konstruktion anzündete und im hohen Bogen in die Luft warf oder vom Balkon kippte.
  5. Aus Lockenwicklen, Fingern von Gummihandschuhen und Panzerband eigene Katapult-Geschosse bauen, mit denen man Erbsen auf Tauben oder Passanten schoss. Das tat weh … ehrlich gesagt.
  6. Einen Flummi auf die große Kreuzung werfen und zusehen was geschah. Mit Flummi‘s musste man aber sehr haushalten, die gab es nicht an jeder Ecke. Diese Aufgabe wurde dann oft dem Bandenmitglied mit Westverwandschaft übertragen.
  7. Münzen oder Steine auf die Gleise der Straßenbahn legen und hoffen, dass sich ein toller Funkenflug ergibt oder eine platte Münze.
  8. Das Tarifsystem im Berliner Sport-und Erholungszentrum (SEZ) mit Wellenbad austricksen, mit dem wir länger als die normalen zwei Stunden bleiben konnten (ich meine das war eh nur ein Eintritt von 1,70 Mark … aber von „nüscht kommt nüscht“).
  9. Am Nachmittag auf der sogenannten „Titten-Wiese“ herumlungern. Eine Liegewiese im SEZ-Park, auf der sich viele Damen sehr freizügig der sozialistischen Sonne und ihrem Lauf hingaben.
  10. … und ja, wir haben den schmächtigen D. in eine Mülltonne gesteckt. Das tut mir heute noch Leid.

Nun, das ist sicherlich nichts, worauf man groß stolz sein sollte. ABER: wir haben uns eigentlich nie ernsthaft mit anderen gekloppt, es gab keine Bandenkriege und wenn mal einer am Boden lag, war halt Schluss.

In dem Sinne. Schluss.

12) Akteneinsicht 1991: Abklingbecken

Ich kann gleich vorweg nehmen, dass das Hausaufgabenheft 1991 etwas öde und lückenhaft ist. Das Datum zur jeweiligen Woche fehlt oft, was für eine Schlamperei, das hätte es zu DDR-Zeiten nicht gegeben. Und im Vergleich zu 1990 steht auch kaum noch etwas Spannendes drin. Alles bezieht sich „nur noch“ auf die Schulfächer. Ich könnte jetzt so etwas wie „Kittel mitbringen!!“ zitieren, „Mathearbeit“, „Scheibenkupplung“, „Kolonialpolitik lernen“ oder „Freude, schöner Götterfunken“, aber das wäre langweilig.

War das Schulleben mit der Deutschen Einheit wirklich so trist geworden? Hatten die Lehrer den Eltern nichts mehr mitzuteilen? Gab es denn nichts mehr an mir herumzukritisieren, nichts mehr zu “formen“? Keine Klagen über mein Betragen zu notieren, keine Gängeleien mehr in roter Schrift, die vom Elternhaus gegengezeichnet werden mussten?

Oder hatte ich einfach nur langsam eingesehen, dass es nicht weitergeht, wenn ich nur auf „anti“ spiele?

Vermutlich war es von beidem etwas. Die Lehrer zogen sich aus dem viel beschworenen Dreieck „Schule – Elternhaus – Pionierorganisation“ zurück und überließen die Erziehung den Eltern … und dem neuen Privat-Fernsehen. Aber da zu Ende 1991 das Ost-Berliner Schulsystem umkrempelt werden sollte, musste ich mich auch etwas zusammenreißen, wenn ich mit meinen beiden „Blutsbrüdern“ R. und S. auf das selbe Gymnasium wechseln wollte.

Im Folgenden nun wieder Einblicke in mein Hausaufgabenheft, meine Einträge belasse ich „normal“, die von Lehrern/Schülern mache ich fett und heutige Kommentare gestalte ich kursiv.

<<Hausaufgaben>>
14.01.91: Essensgeld, 20 DM (Oktober 1990 waren es noch 42 M)
25.01.91: Betragen 2 (wat‘n nu ? … Neujahrsvorsätze?)
04.05.91: Betragen 3, Mitarbeit 2+, Fleiß 2 (is‘ ja widerlich)
13.05.91: Wandertag (Fahrschein 4,00 + Döner = 7,50 M) … ja Döner 3,50 kaum zu glauben

<<Auszug Geographie-Arbeit>>
…Es fehlt hauptsächlich Geld, denn mit Geld kann man den Hunger stillen, Bildung organisieren und damit das Bevölkerungswachstum verhindern. Aber bei einem Kreislauf ist es schwer anzufangen. Gibt mein Geld für Nahrung, ernähren sie auch die kleinen Kinder -> Bevölkerung wächst …
Also, sterben lassen? Das geht doch wohl nicht!

<<Auszug, Russich-Arbeit>>
… Nach der Prüfungsbewertung wäre das „5“ , da du nur eine Stunde Zeit hattest und trotzdem vieles richtig hattest, würde ich dir eine „3“ geben. Entscheide selbst ob du sie haben willst.

Ich war erste Stunde nicht da!!!

<<Zeugnis>>
T. hat in diesem Schuljahr trotz der schwierigen Lernbedingungen der Klasse erkennbar versucht, in verschiedenen Fähigkeiten sein Leistung zu steigern. … im kommenden Schuljahr selbstverständlich seinauch sein Arbeitsstil auf Gewissenhaftigkeit und systematisches Vorgehen zu überprüfen … wird in die neunte Klasse versetzt

<<Außerunterrichtliche Veranstaltungen>>
Elternversammlung am 6.3.1991, 19:00 Uhr, Aula
Thema: Perspektive der Schule

<<Mitteilungen>>
In Informatik Hefter:
16 Bit-Rechner, No Name Computer.

Betriebssystem (MS DOS)

  1. Laufwerkswechsel zum Beispiel von C: nach A:
  2. Inhaltsverzeichnis anzeigen „DIR“ (directory)
  3. Verzeichniswechsel „cd“ (change directory)
  4. Ausführer Programme COM, EXE, BAT

<<Hinweise>>
DEPECHE MODE
Pimpf
Behind the wheel
Strange Love

Never been down again.
Question of last.
Master And Servant

Just can’t get enough.
Everything Counts

… ein riesiges Meer ab musikalischen Möglichkeiten tat sich auf.

<— 11) Akteneinsicht 1991: Zwischen Heimat und System

3) Akteneinsicht 1988: Altstoffe und nasse Lappen

Für den zweiten Beitrag dieser neuen Kategorie >Akteneinsicht, gehe ich natürlich weiter ins Jahr 1988, bevor wir dann gemeinsam in die vollkommen verrückten Jahre 89/90 einsteigen.

1988, ein Jahr wachsender Opposition in der DDR, inspiriert durch die Reformpolitik in der Sowjetunion, die die DDR-Führung jedoch ablehnte und unterdrückte.

Was sonst so geschah:

Der August 1988 war ein Monat der Hochzeiten. Wegen des „magischen“ Datums 08.08.88  entstand ein Run auf die Standesämter, soweit ich mich erinnere. Auch 1988 gab es gigantische Konzerte, sogar im Berliner Osten (Bruce Springsteen, Joe Cocker, Bryan Adams, Depeche Mode).

Leider war ich mit 12 Jahren noch zu jung, dort hinzugehen, aber ich habe noch sehr gut die Schlange von Depeche Mode-Fans vor Augen, die an der Werner-Seelenbinder-Halle standen, um vielleicht doch noch ein Ticket zu ergattern und sich auch nicht scheuten, ihr Simson Moped dafür anzubieten.

Ich gewähre also wieder Einblick in mein Hausaufgabenheft. Wie schon beim ersten Beitrag formatiere ich eigene Einträge normal, Einträge von Lehrern fett, heutige Kommentare von mir kursiv.

<<Deckblatt>>

Aufkleber von Alf und Garfield (ja es gab bereits Aufkleber, man musste nur Schulkameraden mit Westverwandtschaft haben … und was zum Tauschen)

<<Regelmäßige Veranstaltungen>>

Di, Do ASG Vorwärts Brandenburger Tor (nicht zu Verwechseln mit dem ASV bitte)

<<Hausaufgaben>>

23.01.1988: Frühstücken / sowjetisches Spielzeug mitbringen

05.03.1988: 60 Pf Pionier Beitrag

23.03.1988: Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich T.‘s Verhalten im Moment verschlechtert. Ich muss Ihnen zu oft, zum Beispiel wegen Schwatzen ermahnen

30.03.1988, 15:00 Uhr: Fest der jungen Talente

11.04.1988: Altstoffe! (Mit dem sammeln von Flaschen und Altpapier ließ sich a) das Taschengeld aufbessern oder b) Daniel Ortega in Nicaragua unterstützen)

12./13.04.88: Der Elternbeirat und der Direktor rufen zum Subbotnik auf. (Subbotnik, ein „freiwilliger“ Arbeitseinsatz für Schüler und Eltern im Schulgebäude oder -Gelände. Würde den heutigen Schulen auch mal ganz gut tun.)

18.04.1988: Sportfest! Nassen Lappen!

25.04.1988: Appel! Turnschuh! Pionierkleidung! (Appell … liebe Leser … nicht Apple)

27.04.1988: 30,00 M Klassenfahrt, Reiszwecken (10)

25.05.1988: 9:25 Uhr, Schulhof! Imbiss! Nassen Lappen! 15:00 Uhr zu Hause (woher der plötzliche Bedarf an nassen Lappen im Mai 88 kam, lässt sich heut nicht mehr nachvollziehen)

02.06.1988: Appell, Pionierkleidung! Geografie Betragen: 3

05.07.1988: Freundschaftsrad (…ja mit d … ist kein Tippfehler)

10.10.1988: Altstoffe (Schon wieder)

11.10.1988: Altstoffe (Und wieder)

12.10.1988: Altstoffe (Wir haben viele Hinterhöfe der Mietskasernen besucht und waren in einigen Wohnungen, um Pullen und Papier rauszutragen … möchte ich heute nicht mehr so im Detail drüber nachdenken)

28.10.1988: Wandzeitung Material! (Ich erinnere mich, dass ganz gern gemacht zu haben. Ich glaube sogar, die Funktion des „Wandzeitungsredakteurs“ übernommen zu haben)

05.11.1988: Unterrichtsdisziplin muss besser werden!

11.11.1988: Russisch: Ohne Berichtigung/Unterschrift!

17.12.1988: T. hält sich nicht an die Norm!

<<Mitteilungen>>

Liebe Eltern! Am 15.03.1988 findet in der Aula 19:00 Uhr unsere thematische Elternversammlung statt. Eine Psychologin spricht über Fragen der altersbedingten Entwicklung der zehn bis zwölfjährigen. Wir hoffen auf Ihre Teilnahme.
KEA u. Klassenleiter.
Wenn Fragen, ohne Name und Anschrift, in Umschlag, morgen mitschicken

30.04.1988; T. erhielt ein Lob für die Einsatzbereitschaft bei der Erfüllung verschiedener gesellschaftlicher Aufträge des Pionierkollektives. Er arbeitete aktiv mit beim Messeobjekt.

Schultaschenrechner SR1
Der Kauf kann ab sofort bis Schuljahres Anfang abgewickelt werden. Zettel mitgeben. Keine Haftung für den Schein. 123,- M
Garantie! 2 Batterien – 2 Jahre, zwei Batterien 11,- Mark
Zum selben Laden, dann austauschen.
Garantie nur bei Werkfehler

(Wahnsinn oder? 123,- Mark für einen Taschenrechner!!!, mehr als zwei Monatsmieten. Frage mich nun rückwirkend wie dieser Preis entstanden ist. Vermutlich war er einfach zu merken und in dem Kontext irgendwie passend)

<— 2) Akteneinsicht 1987: Sozialistische Ordnung

—> 4) Akteneinsicht 1989: Wandel

579) Am Wagen vor mir …

… fährt mein altes Schildchen. Hätt’ ich neulich singen können. Ja, Tatsache, aber der Reihe nach.

Im Rahmen des Autokaufs war das große Kind doch sehr überrascht, dass ich noch alle Nummernschilder meiner bisherigen Autos aufsagen kann. Mag vielleicht auch daran liegen, dass ich Autos nur ungern wechsele und die Anzahl der Kutschen noch deutlich unter zehn liegt.

Und ein paar Tage später dann, welch eigenartiger Zufall, sah ich doch glatt des Kennzeichen meines ersten Autos. Am Wagen vor mir! Spinn‘ ick? Bilde ich mir das nur ein? Ich kam ins Zweifeln. Nein, nein. Isso, könnt‘da glauben und kann ich auch mit Papieren und Fotos belegen. Mach‘ ich jetzt aber nicht übers Internet, sonst werden mir noch uralte Strafzettel nachgereicht.

Also fuhr ich dem blauen Kombi hinterher, machte ein paar Fotos und kam ins Schwelgen. „Am Wagen vor mir hängt mein altes Schildchen“ … 1994 … dreißig Jahre her … keine Kohle in der Tasche, aber trotzdem glücklich irgendwie … und die Welt war irgendwie einfacher.

„Was will der blöde Kerl da hinter mir nur?“ … würde er/sie vor mir bestimmt singen, also setzte ich den Blinker und drehte mal besser ab.

563) Wortwahl: normal

Aus irgendeinem Grund habe ich in den letzten Wochen einen Sensor für das Wort „normal“ entwickelt. Und zwar genau dann, wenn „normal“ den Status Quo beschreibt und das andere, dass unnormale, für die eigentliche Innovation oder Verbesserung gewählt wird. In Zeiten, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird, fände ich eigentlich gut, wenn man das etwas neutralisieren würde. Nein, ich will nicht die Sprach-Polizei spielen, aber warum denn eigentlich …

  • Redet man von normalem Bier und alkoholfreiem Bier? (Ich auch …)
  • Sprechen selbst Bundesminister von dem normalen Bürger, der eine Gasheizung installiert hat?
  • Unterscheidet man normalen Burger und Veggie-Burger?
  • Wählt man zwischen normaler Gurke und Bio-Gurke? Ist denn nicht eigentlich die Bio-Gurke die normale Gurke?
  • Gibt es normale Autos und E-Autos?
  • Kennen wir normale Zigaretten und E-Zigaretten, Normal-Benzin und E-Fuels, normale Brötchen und die „dunklen“ …

Bin mal gespannt, wann all das „unnormale“ zum „normalen“ wird, und wie die Welt dann aussehen wird.

—> mehr aus er Reihe „Wortwahl“ gibts hier

335) Soweit alles gut!?

Ihr kennt das sicher auch. Da hat man seit Längerem mal wieder Kontakt zu jemandem, den man 1 oder 2 Jahre nicht mehr gehört hat und dann kommen euch Fragen wie diese entgegen:

  • Und, sonst alles ok?
  • Wie geht‘s euch denn so?
  • Wie ist es euch ergangen?

Ich hatte neulich so eine Kommunikation, aber um ihm das alles zu erklären, hätte ich Stunden gebraucht, also antwortete ich ganz kurz mit:

„Soweit, alles gut.“

Kurz danach habe ich mich etwas über meinen Satz „geärgert“. Denn es ist ja nicht alles gut und besonders die letzten zwei Jahre waren doch kein Spaziergang.

Also warum habe ich das so kurz abgetan?

  • War ich einfach zu faul, das ausführlicher zu beschreiben? Hatte ich keine Lust, das alles noch einmal zu sagen, zu schreiben, hochzuwürgen?
  • Vielleicht hielt ich es auch für eine Small Talk-Floskel, bei dem der/die andere nicht wirklich eine Antwort erwartet?
  • Möglicherweise war da auch eine Bescheidenheit im Spiel, andere Leute nicht noch mit unseren „Sorgen“ zu belämmern?
  • Oder ist es einfach genau so wie ich es geantwortet habe? Es ist gut. Ja „Gut“. Kein „Ja geht so“, kein „Man wurschtelt sich so durch“, kein „Na ja, könnte besser sein“, sondern einfach „Gut“. Wir sind gesund, haben keine nennenswerten Schäden erlitten und fliegen demnächst in den Urlaub, also was will man mehr?

Ist in der Retrospektive auf einen Zeitraum meistens alles gut? Auch wenn einzelne Tage oder Krisen in dieser Zeit, alles andere als „Gut“ waren. Übertünchen wir Menschen die Vergangenheit gerne mit einem „Gut“-Filter? Und was heißt „Gut“ überhaupt? Ist „Gut“ vergleichbar zu einer Schulnote 2,0? Oder ungefähr 80% von “amazing“ und „awesome“ oder vielleicht sogar 180% im Vergleich zu einem Familienvater aus Burkina Faso oder Luhansk?

Und jetzt mal angenommen, es ist wirklich alles „Gut“ aktuell, was würde ich ihm in einem Jahr antworten, wenn wir wieder Kontakt haben? 

Soweit, alles gut?

210) Olfaktorische Flashbacks

Im letzten Jahr, wurde doch so Einiges über den Verlust des Geruchssinns geschrieben. Nun könnte man spontan sagen, „Na gut, manches wäre verzichtbar, man riecht es besser nicht so genau“. Vielleicht denkt man da an Müllhalden, Dixi-Klo‘s, Käsefüße oder verfaulte Eier. Manche Gerüche aber, würde man sicher vermissen. Jeder kann überlegen, was das seine könnte. Kaffee, Blumen, Kuchen, Pizza, Plätzchen, Glühwein? Jeder wird etwas finden. Aber mir gehts heute nicht um „wohlriechende Dinge“ aus dem Hier und Jetzt, sondern um olfaktorische Wahrnehmungen (… geiles Wort, oder?), die uns Jahre zurück, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort werfen. „Olfaktorische Flashbacks“ sozusagen.

Letztes Jahr hatte ich mehrere solcher Begegnungen, obwohl ich ja eigentlich nur zu Hause war. Vielleicht genau deshalb? Weil ich aufmerksamer, achtsamer war als sonst, nicht so abgelenkt von der Ferne. Einfach nur daheim? Angewiesen auf das, was dort war?

Hier ein paar Gerüche, die mich sofort in die Vergangenheit teleportieren:

  • Frisch gemähte Wiese, Grashalme und Rasensprenger 
  • Wasser auf trockenem Boden und sandigen Flächen
  • Bohnerwachs, Wald-und Wiesen-Tee mit Eintopf
  • Lagerfeuer, Schornsteine und Kohlenanzünder
  • Eishalle, Sporthalle, Swimming-Pool
  • Sonnencreme, After-Sun und Kekse
  • Hustensaft, Zahnarzt, Wartezimmer
  • Zelt, Schlafsack, Mücken-Spray
  • Kölnisch Wasser und Zigarre
  • Erdnussflips 😉

… und Rosmarin … den ich eigentlich sehr liebe, mich jedoch immer wieder an „Latschenkieferbad“ erinnert. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und bei uns gab es nie Latschenkieferbad, aber so ist das nun mal mit den Erinnerungen;-)

Kennt ihr das auch? Gerüche, die auf einmal Schubladen öffnen, in denen man für einen Moment abtaucht?

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121) Vergangenheit

Jeder hat eine davon. Ob man nun will oder nicht. Egal ob sie schön war oder weniger aufregend. Ob man sich gern an sie zurück erinnert oder sie lieber vergessen will. Nein, hier geht es heute nicht um die erste Liebe, sondern um die eigene Vergangenheit. In den letzten Tagen wurde ich mehrfach zurückgeworfen. In eine Zeit der Schwarzweiß-Bilder, Erinnerungsfetzen und Flashbacks, die ganz weit hinten im Oberstübchen liegen. Und dann ist es doch wirklich erstaunlich, was da alles noch vorhanden ist. Erlebnisse, Gespräche und Gefühle. Selbst Temperaturen und Gerüche. Alles lässt sich wieder hervorkramen.

Und das kann alles an einem Sonntag geschehen:

Sohnemann überzeugt mich, einen weiteren Instant-Messaging-Dienst zu installieren. Macht man halt heutzutage so. Kurz danach macht‘s „pling“ und mich schreibt Svenja (Name geändert) an. Mit Svenja war ich in Kita und Grundschule. Man könnte sagen, wir waren „zusammen“. Also so „zusammen“ man halt unter 11 Jahren ist. Und was hatte die für coole Rollschuhe.

Ich flitze zum Sportplatz und eine Frau kommt mir entgegen. Wir schauen uns beide unsicher an. Fußweg, Augen, Fußweg, Augen. Sag mal …? Bist du …? Nee, echt? Ich glaub’s ja nicht! Volltreffer. Doch. Sie ist es. Bettina (Name geändert) und ich synchronisieren uns. Family? Kids? Job? Wohnort? Und sonst so? Allet jut. Oh man, das waren Parties, Mitte der Neunziger.

Die Begegnung mit Svenja, treibt mich an, mal wieder nach Gero (Name geändert) zu googlen. Ich mache das seit Jahren immer mal wieder, denn der kann doch nicht von der Erdfläche verschwunden sein. Jeder hinterlässt doch heutzutage irgendwie Spuren. Ist dem was zugestoßen? Unsere Wege haben sich in den frühen 90-er Jahren getrennt, seitdem habe ich nichts mehr gehört. Und siehe da! Ein Doktor an einer Uni. Hah! Gefunden. So viele Erinnerungen kommen hoch. Viele Nachmittage haben wir verbracht, die Höfe im Viertel erobert.

Ist das alles nur Zufall? Oder wird man irgendwann empfänglicher für solche Begegnungen oder sucht gar aktiv danach?

3) 30 Jahre Mauerfall – Teil 3

Fortsetzung …

„Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“

Bei dem letzten Gedanken wird ihm immer heißer.
„Mein Beruf ist das eine, aber wie stehe ich eigentlich zum System? 
Schwimme ich hier einfach so mit der grauen Masse mit? Bin ich eher ein unauffälliges Rädchen im Getriebe und wurschtele mich durch den sozialistischen Alltag?
Bin ich vielleicht ein Unruhestifter, ein Oppositioneller sogar? Wartet deshalb der dunkle LADA da unten auf der Straße, um mich mitzunehmen sobald ich auch nur die Straße betrete?“

Die nächste Frage folgt konsequent und es läuft ihm kalt den Rücken herunter.
„Bin ich wohlmöglich bei den Grenztruppen gelandet, ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS geworden oder arbeite ich vielleicht sogar hauptamtlich bei der STASI? Warten im dunklen LADA da unten vielleicht Kollegen? Ober bin ich gar deren Vorgesetzter? Ist das der Grund für den klingelnden Wecker am frühen Sonntagmorgen? Oh nein, bitte nicht!“

Der Raum um ihn herum scheint sich zu drehen. Ihm wird übel. Er stolpert ins Bad und übergibt sich ins Klo. Der Magen gibt nicht viel her. Die Krämpfe lassen langsam nach, er erhebt sich wieder und schaut verrotzt in den Spiegel.
„Kann es wirklich dazu gekommen sein? Haben die mich letztlich für ihre Sache gekriegt? Wie kann ich mich dessen vergewissern? In der Wohnung hier gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Soll ich hinuntergehen und beim LADA ans Fenster klopfen? Keine gute Idee. Kann ich mich allein auf meinen Charakter und meine inneren Werte verlassen? Eigentlich schon, aber …“

Vor seinem inneren Auge erscheinen ein paar bewegte Bilder in Schwarz-Weiß.
Soldaten in Uniform besuchen seine Schulklasse und erzählen über ihre Aufgaben und ihren Dienst fürs Vaterland.
Im Sportunterricht werfen Jungs zunächst mit Bällen, später dann mit roten Übungs-Handgranaten. Typ F1. Russisch.
Wandertag und Ausflug zu einer Kaserne der Nationalen Volksarmee. Die Mädchen bekamen Papierfähnchen in die Hand, die Jungs werden ermutigt, in einen Schützenpanzer zu steigen.

Mit der Stirn hämmert er rhythmisch gegen den Spiegelschrank.
„Bitte lass‘ das alles nicht wahr sein. 
Bitte befreie mich jemand aus dieser Blase.
Bitte lass‘ mich die 30 Jahre nicht geträumt haben.
Bitte verwandle diesen furchtbaren Sonntag in einen Traum.
Bitte gib mir Zugang zu Informationen, zu Medien, so dass ich mich der Realität versichern kann.“

ENDE

PS: Liebe Leser, morgen ist der 10.11.2019. Ich wünsche allen, dass kein dunkler LADA vor der Tür steht. Auf das Ende der Mauer. Prost!

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