98) Corona-Lektionen 20

Die siebte Family-Homeoffice-Woche geht dem Ende zu, vor uns liegt ein langes Mai-Wochenende. Das Wetter wird so la la, aber Mai-Fest oder Straßen-Café gibt‘s eh nicht. Nächstes Jahr vielleicht.

Zeit für ein paar Gedankengänge, die mich beschäftigen

Abwägung: Seit längerem liegt ein Text-Fetzen in meinen Notizen: „… Alles für die Gesundheit? Wie lange? …“. Aber ich hatte keinen Schimmer, wie ich das hier halbwegs sensibel ansprechen kann. Nun hat der Bundestagspräsident das getan. Er provoziert eine wichtige Diskussion: Kann alles der Gesundheit unterliegen? Was riskieren wir sonst noch so, um die Infektionszahlen niedrig zu halten? Wie lange tragen wir das alle mit? Ist es nicht auch der Lauf der Dinge, dass Menschen erkranken? Das klingt kalt und herzlos, das weiß ich auch. Aber ich denke, die Gesellschaft kann sich der Frage auch nicht entziehen. Schwieriges Thema, gar keine Frage.

Risiko: Ein Bespiel, wo es definitiv ein Risiko gibt. Da gibt es eine kleine Omma, die soll im Juni stolze 100 Jahre alt werden. Seit Wochen darf sie niemand mehr besuchen, auch ihr Zimmer darf sie nicht mehr verlassen. Nicht einmal zum Essen. Alles zum Schutze ihrer Gesundheit. Sie ist damit sehr unglücklich, die Kommunikation mit den Angehörigen klappt schlecht, da sie schwerhörig ist. Zum Briefe schreiben kann sie kaum den Stift halten. Also bleibt nur die Glotze bei Lautstärke 100. Und diese kleine Omma, schützen wir nun vor „uns“, die vielleicht diese fiese Krankheit unwissend in uns tragen. Dieser kleinen Omma wird man wohl verklickern müssen, dass der Bürgermeister nicht kommen wird, um zum Hundertsten zu gratulieren. Fraglich ist, ob überhaupt EINER aus der Familie vorbei gehen kann. Vielleicht ist sie nun so gut geschützt, dass sie noch 100,5 wird oder gar 101 oder 102? Wird aber die Familie nie mehr sehen, wenn es ganz blöd läuft.

Applaus: Ich will den Beitrag nicht so düster enden lassen, also nun noch etwas Unterhaltsames: Unsere jungen Mitbewohner hatten kürzlich den Fernseher fürs Finale von „The Voice of Kids“ okkupiert. Die Show lief ohne Publikum natürlich. Die Sitzreihen dort im Studio waren unbesetzt und abgedunkelt. Alle 30 Sekunden ertönte aber ein Applaus. Wie damals bei „Alf“ oder der „Schrecklich netten Familie“. Sehr skurril. Das wäre doch auch was für die kommenden Geisterspiele im Fußball oder? Das kann man auch wunderbar automatisieren. Kaum rollt der Ball aufs gegnerische Tor zu, toben die einen Lautsprecher, rollt er zurück, tönen die anderen Boxen. Fangesänge, Schlachtenrufe und selbstverständlich die üblichen Beleidigungen könnte man auch abspielen. Für die Bengalos kann man vielleicht einen Pyro-Werker anheuern, die haben doch eh nix zu tun gerade.

In diesem Sinne.

Schönen Feiertag 

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8 Kommentare zu „98) Corona-Lektionen 20

  1. Ich glaube, ein großes Problem ist einfach, dass wir uns alle nach langen Jahr(zehnt)en der immer höher gezüchteten Hochleistungsmedizin alle gar nicht mehr mit dem Sterben beschäftigen möchten. Auf der einen Seite ist es super, dass viele Krankheiten durch Medikation, Therapie oder Transplantation geheilt oder zumindest im Zaum gehalten werden können. Auf der anderen Seite entsteht dadurch aber auch ein Erwartungsdruck.

    Durch Palliativangebote und solche Dinge wie Patientenverfügung entsteht zwar langsam wieder ein etwas differenziertes Denken über die letzten Lebenstage, aber die Zeiten, in denen der Tod ganz selbstverständlich zum Leben dazugehört, sind irgendwie vorbei.

    Andererseits kann ich auch nach den Geschehnissen im 3. Reich gut nachvollziehen, dass eine Diskussion, ab wann ein Leben nicht mehr „lebenswürdig“ ist, vermieden werden soll. Dann wären wir wieder nahe an der Euthanasie, das kann es auch nicht sein. Das Pendel schlägt hier zurzeit von einer Seite zur anderen und findet keinen Ruhepunkt.

    Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich nicht zu den Menschen gehöre, die für viele andere Entscheidungen treffen muss, die weitreichende Konsequenzen haben…

    Jedenfalls danke für deine Gedankengänge. Komm gut durch.
    Liebe Grüße, Anja

    1. Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Ja wir haben uns daran gewöhnt, dass ganz viel heilbar ist und wir haben uns auch daran gewöhnt, dass wir alles geregelt und einklassifiziert haben. Steuerklasse, Gewicht, Pflegestufe, Schadstoffklasse, Konfektionsgröße, Alter, warm, kalt, oben und unten usw.
      Bei dieser Krise fehlt uns jegliche Orientierung und daher wollen wir aktuell, dass ALLES für JEDEN vorhanden ist. Das KEINER einen Nachteil hat, und ALLE gleich geschützt werden. Und da kommen wir an Grenzen. Nicht, dass ich eine Antwort drauf hätte …

  2. Ich habe auch keine Antworten, aber die nun fast 100 Jahre alte Mutter… und auf irgendeine Weise werden wir ihren Geburtstag einigermaßen würdig feiern

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