11) Akteneinsicht 1991: Zwischen Heimat und System

Den folgenden Teil der Reihe >Akteneinsicht, schiebe ich schon etwas länger vor mir her. Es war immer klar, dass dieser Beitrag irgendwann mal anstehen würde, aber ich weiß nicht, wie ich ihn beginnen soll. Es geht darum, dass die DDR rückblickend oft „Unrechtsstaat“ gennant wird, für den Großteil der Bürger dort aber auch einfach „Heimat“ hieß. Und „zu Hause“ definiert sich nun mal auch durch Alltag. Zum Beispiel durch Wohnung, Schule, Arbeit, Urlaub, Freunde, Familie, Kollegen, Datscha, Verein und so weiter. Aber auch Orte, Wege, Organisationen, die dem Leben Struktur und Vertrautheit bieten, gehören dazu. Und die wurden binnen nicht mal eines Jahres abgeräumt.

Ich glaube, es war Ende 1990, da wurden die Schülbücher ausgetauscht. Statt vom Verlag „Volk und Wissen“, wurden wir nun von Cornelsen, Westermann und Klett ausgestattet. Was gestern falsch war, wurde über Nacht richtig. Die Aufmachung und Papierqualität war hochwertiger, dadurch waren sie aber auch deutlich schwerer als die DDR-Bücher. Und sie enthielten „andere“ Fakten (speziell in Geschichte, Sozialkunde etc). Ist das denn nun die Wahrheit? Oder nur einfach nur eine andere Sicht auf die Dinge? Das wurde nicht mit uns besprochen.

Genauso eifrig war man beim Umbenennen von Straßen, Plätzen und Schulen. Ja natürlich waren die Namen Thälmann, Lenin, Luxemburg, Dimitroff, Grotewohl, Piek im Stadtbild deutlich überrepräsentiert. Und wir hatten mittlerweile vermittelt bekommen, dass das eben nicht nur „Helden“ des Kommunismus und Sozialismus waren. Ein großes Durcheinander folgte. Für die Taxifahrer konnte das Problem einfach mit erweitertem Anhang in Berliner Stadtplänen gelöst werden, in dem sich ein Verzeichnis alter und neuer Straßennamen fand. Für die Jugend fand ein solcher Transfer, inhaltlich meine ich, nicht statt.    

Dass Städte wie Karl-Marx-Stadt wieder in Chemnitz zurückbenannt wurden, und „Wilhelm-Pieck-Stadt Guben“ einfach wieder nur die „Kleinstadt“ Guben am Fluß Neiße sein würde, war mir ziemlich egal. Als es dann aber auch der  kleine Brandenburger Ort Lehnin (mit „h“ wohlgemerkt und erstmals erwähnt um das Jahr 1200) in den Focus kam, da wurde erkennbar, wie irre das teilweise zuging.

Aber selbst das, das waren ja nur Buchstaben, die man recht schnell austauschen konnte. Beim Abriss von großen Denkmälern tat man sich sich schon schwerer. Spezielle Diamant-Säge-Blätter mussten rangeschafft werden, um den großen Lenin am Leninplatz unweit von hier zu demontieren (spektakulär im Film „Good Bye Lenin“ zu sehen). Auf dem glatten Granitplatz konnten wir vorher wunderbar Skateboard fahren. Der war dann leider futsch und wurde zum „Platz der Vereinten Nationen“ mit langweiliger Wiese, Kieselwegen und Springbrunnen aus großen Steinen (siehe Titelbild).

Den Nummernschildern an den Autos ging es auch schnell ans Blech. Die Ost-Berliner führten vorher ein „I“ vorn im Schilde, bei denen war das neue „B-“ schnell beliebt. Allerdings mussten für die Ost-Berliner Autos neue Buchstabenbereiche eröffnet werden und somit war im Straßenbild doch recht schnell klar, wer aus dem Osten kam und wer nicht. Alte „Westberliner“ Kennzeichen standen Hoch im Kurs, um nicht als Ossi erkannt zu werden. Ich erinnere mich auch, dass das Nummernschild beginnend mit OST- eigentlich für die Stadt Osterburg gedacht war, dass dann aber mehrheitlich abgelehnt wurde. Niemand wollte so nach Bayern oder Baden Würtenberg dem Urlaub oder neuen Job entgegen fahren. Aus OST- wurde dann SDL- … keine Ahnung wo das ist, aber Hauptsache nicht „Osten“.

Und auch damit entstand etwas Gefährliches, was heute noch seine Auswirkungen hat. Natürlich war der „Ossi“ in vielen West-Gepflogenheiten unerfahren, viele Menschen verloren zudem Job, Identität und Halt. Viele mussten wieder von ganz “unten“ anfangen, fanden sich in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und wurden erneut enttäuscht. Ein gefundenes Fressen für schlaue „Besser-Wessi‘s“ und die Erfinder von Ossi-Witzen. Es enstand eine gewisse Scham, als Ossi aufzufallen. Sei es über Nummernschilder, Klamotten, Sprache oder Lebensläufe. Als geborener Ost-Berliner, konnte ich immer voll überzeugt sagen, ich käme aus Berlin. Während der Berufsausbildung, fand ich erstaunlich, wie lange meine Azubi-Kollegen aus z.B. Bayern mein „Berlin“ automatisch als West-Berlin deuteten. Wenn ich mal beim Bierchen durchblicken lassen habe, dass ich aus Ost-Berlin stammte, kamen häufig Antworten wie „Ach das hätte ich ja jetzt nicht gedacht“ oder „Siehst ja gar nicht so aus“.

Manchmal begegnet mir heute gelegentlich eine gewisse „Ostalgie“ und gleichzeitig stößt sie mir dann aber auch sauer auf. Wenn es den Anschein hat, da würde jemand ein Unrechtssystem schönreden, mag das in Einzelfällen sicher stimmen. Für die Mehrheit sind es doch aber Erinnerungen an … Heimat und Herkunft … und den nicht ausgiebig genug geführten Dialog in der Zeit der Wende. Übrig geblieben sind heute oft nur eine Zeitlupe aus Champus und Feuerwerk auf der Berliner Mauer, untermalt vom „Wind of Change“ der Skorpions.

<— 10) Akteneinsicht 1990: Go West

—> 12) Akteneinsicht 1991: Abklingbecken

10) Akteneinsicht 1990: Go West

Auch wenn man 1990 nicht in den Westen zog, hielt der Westen überall Einzug.

Noch bevor die D-Mark zum neuen Zahlungsmittel wurde, kamen bald die ersten West-Produkte über die Grenze. Ich kann das nicht mehr an einem Datum festmachen, es muss aber so im Frühjahr 1990 gewesen. Die ersten Imbiss-Wagen rollten ein, Pommes und China-Pfanne gab es nun im Vorbeigehen. Lotto-Läden boten auf einmal auch West-Zeitungen und Softdrinks in Dosen an. Bäcker verkauften auch Speise-Eis und Süßwaren, Zigarettenwerbung wurde an jede Ecke genagelt und die Eis-Fahnen der noch unbekannten „Schöllers“ und „Langneses“ rausgehangen. Kaugummi-Automaten schmückten nun die grauen Häuserwände und fantastische Schreibwaren kamen in die Auslage. Die Vielfalt der Stifte, Textmarker und Eddings war verlockend, nur blöderweise unbezahlbar. In einer kurzen Zeit vor der Währungsunion im Sommer 1990, konnte man diese Produkte dann auch mit DDR-Mark bezahlen, aber zu einem Umrechnungskurs von 1:3. Die Jugendzeitung Popcorn, kam damit 4 Westmark oder eben 12 Ostmark. Also wurde viel geklaut und danach auf dem Schulhof gehandelt. Bravo-Einseiter-Poster für 1 Mark Ost, Bravo-Doppelseiter für 3 Mark Ost, usw … für einen Bravo-Starschnitt musste man sein Sparschwein schlachten.

In der zweiten Jahreshälfte, wurde der Westen auch an den Klamotten der Mitschüler sichtbar. Die, deren Familien das nötige Kleingeld hatten, erschienen bald mit entsprechenden Marken und Moden der Zeit. Die, bei denen das Geld zu Hause nicht so locker saß, trugen weiterhin den „DDR-Schick“, oder kleideten sich beim westdeutschen Discounter ein. So waren im Wesentlichen fünf Stilrichtungen sichtbar.

  1. USA: Hockeyjacke, Basketball, Rap, HipHop
  2. Sport: Sneaker, knallbunte Trainingsanzüge
  3. Rechts-militant: Bomberjacke, weiße Socken, Stahlkappen
  4. Links-alternativ: Punk, Pali, Gothik, Grufti
  5. Discount: Woolworth, Aldi, Polen-Markt

Mit der D-Mark kamen nicht nur die Produkte und Dienstleistungen, sondern auch der Beschiss. Viele „Ossi‘s“ erlagen den Versprechungen und fanden sich auf Verkaufsveranstaltungen und Kaffee-Fahrten wieder, kauften Heizdecken oder Unmengen Grünpflanzen vom LKW herunter („10 Töpfe für Hundert Mark und noch zwei dazu für den Herren hier vorn“). Der meisste Beschiss erfolgte wohl auf dem Gebrauchtwagenmarkt. In Windeseile wurde das Stadtbild mit alten West-Autos geflutet. Trabant und Wartburg wurden zu Pflanzkübeln, die neuen (alten) hießen nun Golf, Jetta, Corsa, Kadett, Fiesta und Escort. Ein Eldorado für windige Geschäftemacher.

In Folge der Währungsunion standen die DDR-Betriebe auf einmal im internationalen Wettbewerb, unproduktive Betriebe konnten nicht mehr mithalten, Exporte nach Ost-Europa wurden zu teuer, Subventionen des bankrotten Staates blieben aus und gleichzeitig galten nun auch neue Qualitätsstandards. Die Bürger kauften lieber Lebensmittel von „drüben“, Unternehmen gingen in die Insolvenz, Arbeitnehmer zum Arbeitsamt. Die „guten Stücke“ rissen sich Westdeutsche Unternehmen unter den Nagel, den Rest verkloppte die Treuhand häufig unter Wert. Menschen verließen das Land in Richtung Westen. Aber es gab auch Menschen die von West nach Ost zogen, entweder zum Feiern oder um endlich mal Chef zu werden.

<— 9) Akteneinsicht 1990: Umbruch

—> 11) Akteneinsicht 1991: Zwischen Heimat und System

9) Akteneinsicht 1990: Umbruch

Häufig spricht man ja von 1989, als „dem“ Wendejahr. Und das mag politisch gesehen auch stimmen, aber persönlich waren die Jahre 1990 und 1991 viel einschneidender. Mittlerweile hatten schon viele mal den „goldenen“ Westen besucht, und gesehen, dass auch der ganz besonders im Winter recht grau sein kann. Manch Lehrer oder Mitschüler kam gar nicht mehr zurück. 

Im Frühling gab es erste demokratische Wahlen, im Juli wurde die D-Mark zur neuen Währung erklärt, mehr dazu in einem separaten Beitrag. Und, auf einmal durfte man eine eigene Meinung haben, ja, man musste sogar. Was für ein Stress. Bisherige Spielregeln wurden herausgefordert, neue gab es noch nicht so richtig, ein kräftiges Durcheinander in der Gesellschaft und bei mir im Kopf.

Im Folgenden nun wieder Einblicke in mein Hausaufgabenheft, meine Einträge belasse ich „normal“, die von Lehrern/Schülern mache ich fett und heutige Kommentare gestalte ich kursiv.

<<Hausaufgaben>>
22.01.90: Hallo mein GESCHWÄRZT. ICH GESCHWÄRZT GESCHWÄRZT GESCHWÄRZT alles. Wenn ich Dich sehe geht für mich GESCHWÄRZT GESCHWÄRZT GESCHWÄRZT !

02.02.90: Fachzensur für heutige Leistung: 5, Disziplin: 5

03.03.90: Wähle eine Fabel von Lessing aus. Interpretiere sie, vergleiche diese Fabel mit einer von … kann ich nicht mehr lesen.

19.03.90: T. arbeitet kaum noch mit, er stört sogar im Unterricht, Leistungsabfall ist zu verzeichnen.

04.04.90: T.‘s Arbeitshaltung spiegelt sich schon in der Führung des Hausaufgabenhefts wider. Im Augenblick arbeitet er nur äußerst oberflächlich im Unterricht mit, was keinesfalls zu einer Verbesserung der Leistung führen kann. Ich glaube kaum noch daran, dass er wirklich etwas verändern will.

07.04.90: Perestoika! Glasnost!

10.04.90: T. quatscht im Unterricht und lenkt andere ab

09.05.90: Geschichte: Umrisskarte der DDR malen

17.05.90: Himmelfahrt      OLE !!!!

22.09.90: T. Könnte die Klasse mit vorwärts treiben, leider nutzt er seine Fä* dazu nicht. *Fähigkeiten

27.09.90: Gesellschaftskunde: Betragen: 3, Mitarbeit: 1 (…na geht doch)

01.10.90: T. erhält eine Verwarnung.

05.12.90: Musik: Thema = Neonazis

<<Mitteilungen>>
Liebe Eltern! 23.04.90 – 25.04.90.
Jugendherberge Dahmen in der Nähe von Malchin am Malchiner See
30,- M
Treffpunkt, 23.04.90 S-Bahn Steig Leninallee
Besteck, Hausschuhe, „Futter“, Telespiel, Walkman, Kassetten, TT-Kelle, Batterien

<<Zeugnis >>
06.07.90 … T. ist ganz bestimmt auch ein wenig enttäuscht von seinen Lernergebnissen in diesem Schuljahr. Das sollte er wirklich bewusst nach den Ursachen suchen, die nicht nur in den gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit liegen.

<<Bewertung Deutscharbeit>>
T., das ist eine Glanzleistung, denn so gut wie nichts gehört zu Kellers Novelle. Du hast also 4 Stunden lang nicht zugehört. Form und Schrift sind ebenfalls eine Schande für ein Schüler aus der achten Klasse. 2,5 / 14

<<Einschätzung Kl.8>>
08.10.90: … stellt häufig Fragen, die im Unterricht eine unnötige Diskussion hervorrufen, Pausendisziplin nicht immer akzeptabel. Walkman-Diskussion

18.12.90: … er ist zur Zeit mehr mit anderen Dingen beschäftigt, die mit dem Unterricht nichts zu tun haben … Vielleicht könntest du T., Manuela im Unterricht helfen, sie etwas anzuspornen, dürfte dir als ihrem Freund doch nicht schwer fallen (entsprechend eurem Verhalten habe ich dies geschlussfolgert)

What? Manuela … Manuela …?

Ach ja Manuela 😉

<— 8) Akteneinsicht 1989: 100 Mark West

—> 10) Akteneinsicht 1990: Go West

8) Akteneinsicht 1989: 100 Mark West

Für den folgenden Beitrag, gibt es kein Papier in dem ich blättern kann. Nichts wurde notiert. Ich muss also in meinem Gedächtnis kramen.

Die Berliner Mauer war nun passierbar geworden und man konnte sich die Nase an den West-Berliner Schaufenstern platt drücken. Aber wenn man keine D-Mark daheim oder eine Tante „drüben“ hatte, blieb es halt auch dabei. An „Kaufen“ war nicht zu denken, es fehlte das richtige Kleingeld.

Dafür gab es in der BRD bereits den Mechanismus des sogenannten „Begrüßungsgelds“. Die Auszahlung an die vielen DDR-Bürger konnte dadurch recht flott aufgenommen werden, was zu langen Schlangen an den Bankfilialen führte. Aber der Ossi war ja Anstehen gewöhnt. Wir wählten die Schlange der Deutschen Bank am Hermannplatz in Berlin Neuköln (… keine Ahnung warum nun gerade dort).

Wenn heutzutage jeder weiß, was er am 11.09.2001 gemacht hat, als die Nachrichten aus New York kamen, erinnert sich vermutlich jeder Ossi, was er sich als erstes für‘s heiß ersehnte West-Geld gekauft hat.

In meinem Falle waren es zunächst quietschgrüne Hosenträger mit schwarzer Aufschrift „I am the Boss“, die wir auf dem Markt auf dem Hermannplatz ergatterten. Rückwirkend peinlich, aber sicher sehr lukrativ für den Händler.

Dann waren wir in irgendeinem ALDI und mindestens drei Dinge landeten im Einkaufskorb:

  • Eine Dose River Cola (die ich später auswusch und zusammen mit anderen Dosen sammelte).
  • Eine Tüte Mäusespeck (die wird sofort verdrückten).
  • Ein Karton Orangen-Saft (der vermutlich nie eine Orange gesehen hatte).

Wieder zu Hause angekommen, stand der angebrochene Karton O-Saft auf dem Kühlschrank. Wie der heilige Gral. Für Kinderhände erreichbar, sehr verlockend, im Vorbeigehen dran zu nippen. Aber immer nur ein bisschen, denn das gute Zeug sollte schließlich ein paar Tage (!) reichen.

Aber auch im Westen neigte sich ein Liter O-Saft irgendwann dem Ende zu. Ich sah nur einen Weg, meinen Mundraub vor der Familie zu verschleiern. Den Karton wiederholt mit etwas Leitungswasser aufgießen und dann vermehrt dem Bruder den Vortritt lassen, damit der dann den Ärger bekommt.

Sorry…

<— 7) Akteneinsicht 1989: Ausflug nach West-Berlin

—> 9) Akteneinsicht 1990: Umbruch

6) Akteneinsicht 1989: Mit Basecap zu Gorbi

Bevor es weiter ins Jahr 1990 geht, will ich auf jeden Fall noch zwei, drei Geschichten loswerden, von der die folgende sogar in einer Zeitung dokumentiert ist.

Anfang Oktober 1989 wurde Gorbatschow zum Staatsbesuch in Ost-Berlin erwartete, das 40-jährige Bestehen der DDR sollte gebührend gefeiert werden. Dass das für Honecker eine ziemlich peinliche Nummer werden würde, das wusste der zu dem Zeitpunkt der Geschichte wohl noch nicht. Im Volksmund wurde der Michael Gorbatschow bereits liebevoll „Gorbi“ genannt und versprach, Öffnung und Reform. Perestroika und Glasnost. Da nun so exklusiver Staatsbesuch anstand, wurden wir von der Schule zum Winken verdonnert.

Wie üblich wurde erwartet, entsprechende „Winkelemente“ mitzuführen (so etwas wie Fahnen, Blumen, Wimpel, Schleifen … Zeugs womit man halt winken kann). Und da mein Freund und ich darauf überhaupt keine Lust hatten, kamen wir auf eine andere kreative Idee. Wir schmückten unsere Basecaps (keine Ahnung, woher wir die damals hatten) mit dem Namen „Michael Gorbatschows“. Einer Michael, der andere Gorbatschow. Die schnitten wir aus der Zeitung aus und befestigten sie mit Sicherheitsnadeln am Schirm der Mütze. Zusätzlich fertigten wir einen Sticker, dazu nahmen wir einen anderen Sticker, klebten ein Foto von Gorbi drauf und verpackten das ganze wasserdicht mit Klebeband.

Leider war mein Basecap nun auch noch knallrot, aber ich war ja froh, in 1989 überhaupt eins zu haben. Damit stiefelten wir nun zu unserem zugewiesenen Stellplatz auf dem Mittelstreifen der Schönhauser Allee, unterhalb des U-Bahn-Viadukts, gegenüber dem Kino Colloseum. Da kamen Fotografen auf uns zu und machten ein Bild. Zum Glück standen wir richtig, links Michael, rechts Gorbatschow. Ob sie uns auch interviewten, weiß ich heute nicht mehr. Ich glaube nein. Das war ein Moment, wo wir befürchteten, dieser Kopfschmuck könnte Konsequenzen haben. Denn schließlich waren Staat und Ordnungsorgane ja noch voll intakt.

So standen wir da mit den Füßen an der Bordsteinkante und blickten aufgeregt nach rechts, aus der Richtung die Kolonne ja kommen müsste. Heute vermute ich, dass sie aus Pankow, Schloss Schönhausen kamen, dem damaligen Gästehaus der DDR-Regierung.

Irgendwann kam dann Blaulicht und hinten dran schwarze Limousinen mit halb geöffneten Fenstern. Es folgte das Quieken der Schüler, Klatschen, Beifall und natürlich wurde nach „Gorbiiiiiiiii“ gerufen.

Im Sommer 2024, da sah ich mal den Foto-Nachlass meiner verstorbenen Großmutter durch und fand den Zeitungsausschnitt mit dem Foto von uns beiden, schwarz-weiß natürlich. Wir beide, mit unseren Basecaps, schauten recht selbstbewusst, aber auch irgendwie vorsichtig. Am Reißverschluss meiner Jacke hatte ich mir sogar ein Kugelschreiber befestigt, vielleicht hatte ich mir Hoffnung auf ein Autogramm gemacht, wer weiß.

Auf der Rückseite hatte die Zeitung notiert, was am 11., 12. und 13. November 1989 geschehen ist, es muss also eine Art Rückblick gewesen sein, wo unser Foto abgedruckt wurde.

<— 5) Akteneinsicht 1989: Mit Udo zum Fahnenappell

—> 7) Akteneinsicht 1989: Ausflug nach West-Berlin

zwei frühere Beiträge mit Gastauftritt Gorbatschow

—> 355) Mann hinterm Fenster

—> 284) Vom Rüsten

3) Akteneinsicht 1988: Altstoffe und nasse Lappen

Für den zweiten Beitrag dieser neuen Kategorie >Akteneinsicht, gehe ich natürlich weiter ins Jahr 1988, bevor wir dann gemeinsam in die vollkommen verrückten Jahre 89/90 einsteigen.

1988, ein Jahr wachsender Opposition in der DDR, inspiriert durch die Reformpolitik in der Sowjetunion, die die DDR-Führung jedoch ablehnte und unterdrückte.

Was sonst so geschah:

Der August 1988 war ein Monat der Hochzeiten. Wegen des „magischen“ Datums 08.08.88  entstand ein Run auf die Standesämter, soweit ich mich erinnere. Auch 1988 gab es gigantische Konzerte, sogar im Berliner Osten (Bruce Springsteen, Joe Cocker, Bryan Adams, Depeche Mode).

Leider war ich mit 12 Jahren noch zu jung, dort hinzugehen, aber ich habe noch sehr gut die Schlange von Depeche Mode-Fans vor Augen, die an der Werner-Seelenbinder-Halle standen, um vielleicht doch noch ein Ticket zu ergattern und sich auch nicht scheuten, ihr Simson Moped dafür anzubieten.

Ich gewähre also wieder Einblick in mein Hausaufgabenheft. Wie schon beim ersten Beitrag formatiere ich eigene Einträge normal, Einträge von Lehrern fett, heutige Kommentare von mir kursiv.

<<Deckblatt>>

Aufkleber von Alf und Garfield (ja es gab bereits Aufkleber, man musste nur Schulkameraden mit Westverwandtschaft haben … und was zum Tauschen)

<<Regelmäßige Veranstaltungen>>

Di, Do ASG Vorwärts Brandenburger Tor (nicht zu Verwechseln mit dem ASV bitte)

<<Hausaufgaben>>

23.01.1988: Frühstücken / sowjetisches Spielzeug mitbringen

05.03.1988: 60 Pf Pionier Beitrag

23.03.1988: Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich T.‘s Verhalten im Moment verschlechtert. Ich muss Ihnen zu oft, zum Beispiel wegen Schwatzen ermahnen

30.03.1988, 15:00 Uhr: Fest der jungen Talente

11.04.1988: Altstoffe! (Mit dem sammeln von Flaschen und Altpapier ließ sich a) das Taschengeld aufbessern oder b) Daniel Ortega in Nicaragua unterstützen)

12./13.04.88: Der Elternbeirat und der Direktor rufen zum Subbotnik auf. (Subbotnik, ein „freiwilliger“ Arbeitseinsatz für Schüler und Eltern im Schulgebäude oder -Gelände. Würde den heutigen Schulen auch mal ganz gut tun.)

18.04.1988: Sportfest! Nassen Lappen!

25.04.1988: Appel! Turnschuh! Pionierkleidung! (Appell … liebe Leser … nicht Apple)

27.04.1988: 30,00 M Klassenfahrt, Reiszwecken (10)

25.05.1988: 9:25 Uhr, Schulhof! Imbiss! Nassen Lappen! 15:00 Uhr zu Hause (woher der plötzliche Bedarf an nassen Lappen im Mai 88 kam, lässt sich heut nicht mehr nachvollziehen)

02.06.1988: Appell, Pionierkleidung! Geografie Betragen: 3

05.07.1988: Freundschaftsrad (…ja mit d … ist kein Tippfehler)

10.10.1988: Altstoffe (Schon wieder)

11.10.1988: Altstoffe (Und wieder)

12.10.1988: Altstoffe (Wir haben viele Hinterhöfe der Mietskasernen besucht und waren in einigen Wohnungen, um Pullen und Papier rauszutragen … möchte ich heute nicht mehr so im Detail drüber nachdenken)

28.10.1988: Wandzeitung Material! (Ich erinnere mich, dass ganz gern gemacht zu haben. Ich glaube sogar, die Funktion des „Wandzeitungsredakteurs“ übernommen zu haben)

05.11.1988: Unterrichtsdisziplin muss besser werden!

11.11.1988: Russisch: Ohne Berichtigung/Unterschrift!

17.12.1988: T. hält sich nicht an die Norm!

<<Mitteilungen>>

Liebe Eltern! Am 15.03.1988 findet in der Aula 19:00 Uhr unsere thematische Elternversammlung statt. Eine Psychologin spricht über Fragen der altersbedingten Entwicklung der zehn bis zwölfjährigen. Wir hoffen auf Ihre Teilnahme.
KEA u. Klassenleiter.
Wenn Fragen, ohne Name und Anschrift, in Umschlag, morgen mitschicken

30.04.1988; T. erhielt ein Lob für die Einsatzbereitschaft bei der Erfüllung verschiedener gesellschaftlicher Aufträge des Pionierkollektives. Er arbeitete aktiv mit beim Messeobjekt.

Schultaschenrechner SR1
Der Kauf kann ab sofort bis Schuljahres Anfang abgewickelt werden. Zettel mitgeben. Keine Haftung für den Schein. 123,- M
Garantie! 2 Batterien – 2 Jahre, zwei Batterien 11,- Mark
Zum selben Laden, dann austauschen.
Garantie nur bei Werkfehler

(Wahnsinn oder? 123,- Mark für einen Taschenrechner!!!, mehr als zwei Monatsmieten. Frage mich nun rückwirkend wie dieser Preis entstanden ist. Vermutlich war er einfach zu merken und in dem Kontext irgendwie passend)

<— 2) Akteneinsicht 1987: Sozialistische Ordnung

—> 4) Akteneinsicht 1989: Wandel

2) Akteneinsicht 1987: Sozialistische Ordnung

Für den ersten Beitrag dieser neuen Kategorie >Akteneinsicht, juckt es mir natürlich in den Fingern, gleich mit dem Wendejahr 89/90 zu beginnen. Darüber wird ja in diesen Tagen viel geschrieben und gesendet. Aber der Umbruch in der DDR begann ja bekannterweise nicht mit der Pressekonferenz und dem Gestammel von Günther Schabowski, sondern es rumorte ja schon vorher deutlich. Daher fange ich mal mit dem Jahr 1987 an. Da wurde ich 11 Jahre alt und aus familiären und biologischen Gründen entwickelte sich auf meinem Hals so langsam ein selbstdenkender Kopf. 

Was sonst geschah:

Ein deutscher Hobby-Pilot landet auf dem roten Platz in Moskau, Reagan besucht West-Berlin, Honecker das verschlafene Bonn, die beiden Berlin‘s feiern jeweils das 750-jährige Stadtjubiläum, man versuchte sich am gegenseitigen Entspannen und verwöhnte das Volk an der Berliner Mauer mit Musik (David Bowie, Eurythmics und Genesis). Je nachdem, wo man aufgewachsen war, konnte man sie sehen oder nur hören.

Leider habe ich damals kein Tagebuch geführt, Blog gab’s ja noch nicht, aber jeder Schüler war verdonnert, ein Hausaufgabenheft zu führen. Die habe ich ab Klasse 5 aufgehoben. Keine Sorge, ich schreibe das jetzt hier nicht komplett ab, picke aber ein paar interessante Stellen heraus. Nicht das banale  „Turnbeutel vergessen“, sondern Passagen aus dem noch „heilen“ sozialistische Schul-Alltag, aber auch schon erste Anzeichen von Rebellion gegenüber dem pädagogischen Personal.

Also, genug der Vorrede. Los geht’s. Meine persönlichen Einträge schreibe ich hier in normaler Schrift, die von Einträge von Lehrern mache ich fett, heutige Kommentare fasse ich in kursiv.

<<Deckblatt>>

Hausaufgabenheft
Name des Schüler: T.
Klasse: 5 

*Madonna*      IC        Modern Talking
(
Aufkleber hatte ich damals noch nicht … nur Filzstifte)

<<Hausaufgaben>>

07.09.1987 9:35 Uhr auf Hof antanzen

12.09.1987 Hefter und Atlas vergessen.

21.09.1987 Atlas und Heft vergessen. (solche Einträge, wiederhole ich von jetzt an nicht mehr)

23.09.1987: Versammlung zur Vorbereitung der Gruppenratswahl, 14:15 Uhr antanzen !!!! (Gruppenrat war so etwas wie Klassensprecherkollektiv, nur eben als Gruppe und „demokratisch“ gewählt)

30.09.1987: Gruppenratswahl 14:30 Uhr !!!!!!!!

01.10.1987: ungenügende Pausendisziplin (das war doch noch jar nüscht)

14.10.1987: Unterrichtsdisziplin sehr schlecht, Freundschaftsratswahl 15:00 Uhr! (Vergleichbar mit der heutigen Schülervertretung, nur stramm sozialistisch)

06.11.1987: 07:20 Appell / Pionierkleidung

18.11.1987: Fest der russischen Sprache

19.11.1987: Milchgeld 5,70 M

20.11.1987: T. zeigt in letzter Zeit ein recht vorlautes Benehmen!

27.11.1987: Milch-Geld: Vanille 3,61 M, Frucht 3,80 M, Kakao 6,65 M, Joghurt 6,65 M, Vanille, 5,70 M, Schoko 9,50 M (Einträge zum Milchgeld wiederhole ich nun auch nicht mehr)

14.12.1987: T.‘s Verhalten ist sehr flegelhaft. Oft stört er durch lautes Dazwischenreden

<<Mitteilungen>>

Für Beteiligung am BZA-Lauf erhielt ich ein Lob.

Da ich gegen die Schulordnung verstoßen habe und trotz Belehrung im Deutschraum getobt habe, erhielt ich eine Verwarnung.

01.12.1987: Weihnachtsveranstaltung Palast der Republik

<<Schlussblatt>>

Madonna = „Herz“        Jennifer Rush

<— 1) Akteneinsicht: Prolog

—> 3) Akteneinsicht 1988: Altstoffe und nasse Lappen

61) Mauerfall im Dreierpack

Der 9. November gilt allgemein als Schicksalstag der Deutschen. Denn mehrere geschichtsträchtige Ereignisse hat es an 9. November-Tagen in der Vergangenheit gegeben, im Guten und im Schlechten. Ich würde mich mit fremden Federn schmücken, wenn ich die jetzt hier nenne und beschreibe. Das können andere sicherlich besser. Ohne die Ereignisse jetzt in ihrer Dramatik, Bedeutung oder Abscheulichkeit vergleichen zu wollen, wird mir persönlich der 9. November in erster Linie mit dem Mauerfall in Verbindung bleiben.

Und eigentlich hatte ich vor, mich heute mal an eine Fortsetzung meiner kurzen Mauerfall-Trilogie zu setzen, aber wenn ich so auf die Uhr schaue, dann wird das wohl nichts mehr heute.

Also re-launche ich einfach die drei Beiträge aus November 2019 noch einmal, mache ein Schleifchen drum und stelle sie als Dreierpack auf den digitalen Grabbeltisch. Machen Superstars auch so und verdienen sich dumm und dämlich, auch wenn sie schon tot sind. Keine Sorge, die hier kost‘n nüscht, Scorpions und Hasselhoff singen auch nicht.

Und ich mache jetzt mal die Glotze an, vielleicht gibt‘s heute mal wieder eine Pressekonferenz und etwas ganz Besonderes …und Positives … passiert.

PS: Na Mensch, jetzt stelle ich auch noch fest, dass die laufende Nummer dieses Beitrags in der Kategorie > Fiction die Nummer 61 geworden ist. Jahres des Mauerbaus. Was für‘n Zufall

Sonderangebot: 3 zum Preis von keinem

1) 30 Jahre Mauerfall – Teil 1

Etwas piept nahe seines Bettkissens, er wird endlich wach. „Oaah, was ist das für ein nervender Ton? Ah, ein Wecker. Komisches Teil. Egal.“ Wie immer, setzt er sich für einen…

2) 30 Jahre Mauerfall – Teil 2

Fortsetzung … … Auf dem Küchentisch liegt die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Ein winzig kleiner Artikel, am Rande der Rubrik „Vermischtes“, sticht ihm sofort ins Auge. Er beginnt zu lesen.…

3) 30 Jahre Mauerfall – Teil 3

Fortsetzung … „Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“ Bei dem letzten Gedanken wird ihm immer heißer.„Mein Beruf ist das eine, aber wie stehe ich eigentlich zum System? Schwimme…

99) Corona statt Nelke

Die Veranstaltungen um den Mai-Feiertag haben sich stark gewandelt. Und nur weil in China jemand von der Fledermaus naschen wollte, wird Corona auch diesen Feiertag disruptiv verändern.

In der DDR wurde zur Teilnahme an der zentralen Demo aufgefordert. Mit roter Plastik-Nelke am Revers und Winkelement in der Hand, stand man sich mit den Eltern und deren Kollegen am Sammelplatz die Beine in den Bauch. Irgendwann setzte sich der Zug dann endlich in Bewegung. Tausende Menschen, Enge, Körper-Kontakt, politische Parolen und Lieder, die den Grau-Köpfen des Politbüros kurz vor dem Alexanderplatz aus müden Kehlen entgegengerufen wurden. Zum Ende der Veranstaltung stand man Schlange, um eine pappige Grilletta (Hamburger des Ostens) zu ergattern oder vielleicht auch mal ein Fischbrötchen. Da musste man aber schon sehr viel Glück haben oder jemanden kennen. (Für die jüngere Generation: Das ist ungefähr so, als wenn ihr heutzutage Klo-Papier besorgen wollt und etwas von der Post abholen müsst.)

Eine staatlich verordnete Groß-Demonstration … heute kaum denkbar. Der „Honi“ Honecker und seine blauhaarige Margot, der kleine dicke Axen, der greise Willi Stoph und der weißhaarige Günther dessen Nachname immer Appetit machte, würden heute alle zur Risiko-Gruppe zählen und für immer in Wandlitz eingeschlossen werden. Auch wenn die DDR damals schon sehr vorbildlich Corona-Maßnahmen umgesetzt hatte (Grenzschließung, Reise-, Versammlungsverbot etc), wäre sie doch spätestens jetzt untergegangen. Das beruhigt doch irgendwie.

Aber auch bei den Mai-Krawallen in den 90-er Jahren war man schon sehr auf die Durchbrechung von Infektionsketten sensibilisiert. Die Demonstranten trugen bereits Mundschutz und warfen Flaschen mit desinfizierenden Flüssigkeiten. Die Polizei war auch im Vollschutz angetreten, gepanzert, mit Visier vor Mund und Nase und sogar mit einem Plexiglas-Schild. (Also so wie im Supermarkt heute.) Beide Lager hielten sich tagelang auf Abstand. Zum regelmäßigen Händewaschen warf die Polizei frisches Wasser über den Demonstranten ab. Virologen würden heute allerdings zu warmem, statt dem damaligem kalten Wasser raten. Und da das Berliner Wasser bekanntermaßen sehr hart ist, sollte man eher Wasser aus den Alpen verwenden. Aber das ist auch nicht mehr ganz so einfach zu beschaffen dieser Tage.

Dieser 1. Mai 2020 wird anders werden. Keine Feste, keine Demos, keine Steine. Stattdessen verlagert der Deutsche Gewerkschaftsbund seine Veranstaltungen komplett ins Internet. Es soll nicht gearbeitet werden und Millionen Arbeitnehmer arbeiten an diesem Tag heimlich, weil sie keinen Bock auf Netflix haben oder Herz-Lungen-Wiederbelebung für ihre Firmen und Geschäfte leisten.

In diesem Sinne … einen schönen Feiertag!

3) 30 Jahre Mauerfall – Teil 3

Fortsetzung …

„Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“

Bei dem letzten Gedanken wird ihm immer heißer.
„Mein Beruf ist das eine, aber wie stehe ich eigentlich zum System? 
Schwimme ich hier einfach so mit der grauen Masse mit? Bin ich eher ein unauffälliges Rädchen im Getriebe und wurschtele mich durch den sozialistischen Alltag?
Bin ich vielleicht ein Unruhestifter, ein Oppositioneller sogar? Wartet deshalb der dunkle LADA da unten auf der Straße, um mich mitzunehmen sobald ich auch nur die Straße betrete?“

Die nächste Frage folgt konsequent und es läuft ihm kalt den Rücken herunter.
„Bin ich wohlmöglich bei den Grenztruppen gelandet, ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS geworden oder arbeite ich vielleicht sogar hauptamtlich bei der STASI? Warten im dunklen LADA da unten vielleicht Kollegen? Ober bin ich gar deren Vorgesetzter? Ist das der Grund für den klingelnden Wecker am frühen Sonntagmorgen? Oh nein, bitte nicht!“

Der Raum um ihn herum scheint sich zu drehen. Ihm wird übel. Er stolpert ins Bad und übergibt sich ins Klo. Der Magen gibt nicht viel her. Die Krämpfe lassen langsam nach, er erhebt sich wieder und schaut verrotzt in den Spiegel.
„Kann es wirklich dazu gekommen sein? Haben die mich letztlich für ihre Sache gekriegt? Wie kann ich mich dessen vergewissern? In der Wohnung hier gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Soll ich hinuntergehen und beim LADA ans Fenster klopfen? Keine gute Idee. Kann ich mich allein auf meinen Charakter und meine inneren Werte verlassen? Eigentlich schon, aber …“

Vor seinem inneren Auge erscheinen ein paar bewegte Bilder in Schwarz-Weiß.
Soldaten in Uniform besuchen seine Schulklasse und erzählen über ihre Aufgaben und ihren Dienst fürs Vaterland.
Im Sportunterricht werfen Jungs zunächst mit Bällen, später dann mit roten Übungs-Handgranaten. Typ F1. Russisch.
Wandertag und Ausflug zu einer Kaserne der Nationalen Volksarmee. Die Mädchen bekamen Papierfähnchen in die Hand, die Jungs werden ermutigt, in einen Schützenpanzer zu steigen.

Mit der Stirn hämmert er rhythmisch gegen den Spiegelschrank.
„Bitte lass‘ das alles nicht wahr sein. 
Bitte befreie mich jemand aus dieser Blase.
Bitte lass‘ mich die 30 Jahre nicht geträumt haben.
Bitte verwandle diesen furchtbaren Sonntag in einen Traum.
Bitte gib mir Zugang zu Informationen, zu Medien, so dass ich mich der Realität versichern kann.“

ENDE

PS: Liebe Leser, morgen ist der 10.11.2019. Ich wünsche allen, dass kein dunkler LADA vor der Tür steht. Auf das Ende der Mauer. Prost!

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