8) Akteneinsicht 1989: 100 Mark West

Für den folgenden Beitrag, gibt es kein Papier in dem ich blättern kann. Nichts wurde notiert. Ich muss also in meinem Gedächtnis kramen.

Die Berliner Mauer war nun passierbar geworden und man konnte sich die Nase an den West-Berliner Schaufenstern platt drücken. Aber wenn man keine D-Mark daheim oder eine Tante „drüben“ hatte, blieb es halt auch dabei. An „Kaufen“ war nicht zu denken, es fehlte das richtige Kleingeld.

Dafür gab es in der BRD bereits den Mechanismus des sogenannten „Begrüßungsgelds“. Die Auszahlung an die vielen DDR-Bürger konnte dadurch recht flott aufgenommen werden, was zu langen Schlangen an den Bankfilialen führte. Aber der Ossi war ja Anstehen gewöhnt. Wir wählten die Schlange der Deutschen Bank am Hermannplatz in Berlin Neuköln (… keine Ahnung warum nun gerade dort).

Wenn heutzutage jeder weiß, was er am 11.09.2001 gemacht hat, als die Nachrichten aus New York kamen, erinnert sich vermutlich jeder Ossi, was er sich als erstes für‘s heiß ersehnte West-Geld gekauft hat.

In meinem Falle waren es zunächst quietschgrüne Hosenträger mit schwarzer Aufschrift „I am the Boss“, die wir auf dem Markt auf dem Hermannplatz ergatterten. Rückwirkend peinlich, aber sicher sehr lukrativ für den Händler.

Dann waren wir in irgendeinem ALDI und mindestens drei Dinge landeten im Einkaufskorb:

  • Eine Dose River Cola (die ich später auswusch und zusammen mit anderen Dosen sammelte).
  • Eine Tüte Mäusespeck (die wird sofort verdrückten).
  • Ein Karton Orangen-Saft (der vermutlich nie eine Orange gesehen hatte).

Wieder zu Hause angekommen, stand der angebrochene Karton O-Saft auf dem Kühlschrank. Wie der heilige Gral. Für Kinderhände erreichbar, sehr verlockend, im Vorbeigehen dran zu nippen. Aber immer nur ein bisschen, denn das gute Zeug sollte schließlich ein paar Tage (!) reichen.

Aber auch im Westen neigte sich ein Liter O-Saft irgendwann dem Ende zu. Ich sah nur einen Weg, meinen Mundraub vor der Familie zu verschleiern. Den Karton wiederholt mit etwas Leitungswasser aufgießen und dann vermehrt dem Bruder den Vortritt lassen, damit der dann den Ärger bekommt.

Sorry…

<— 7) Akteneinsicht 1989: Ausflug nach West-Berlin

—> 9) Akteneinsicht 1990: Umbruch

7) Akteneinsicht 1989: Ausflug nach West-Berlin

Eine Geschichte fehlt hier noch, bevor es weiter ins Jahr 1990 geht. Der erste Ausflug nach West-Berlin. Mittlerweile sieht man ja fast immer dieselben TV-Aufnahmen. Knatternde Trabi‘s, die über die Grenze fahren, West-Berliner die ihnen vor Freude aufs dünne Duroplast-Dach trommeln, Rotkäppchen-Sekt, Küsschen für den Grenzsoldaten. Glück und Freude überall. Aber war das so?

In meinen Schulunterlagen habe ich einen Aufsatz von mir gefunden, der genau dieses Erlebnis beschreibt. Insofern besteht gar keine Gefahr, dass ich rückwirkend etwas glorifiziere oder dramatisiere, was gar nicht war. Ich muss mich nur an den Text halten. Ich will den hier aber nicht komplett wiedergeben, sondern greife ein paar Passagen raus.

„Meine Eltern beschlossen … am Sonntag, den 12. November 1989 einen Ausflug nach West-Berlin zu unternehmen … Wie wird es dort aussehen? Was würde mich dort erwarten? Ist es dort so, wie man es von der Werbung her kannte? …. Zum Grenzübergang Oberbaumbrücke wälzte sich eine riesige Menschenmenge und wir mittendrin. Die Grenz-Soldaten konnten den Ansturm kaum bewältigen … In West Berlin angekommen, erhielten wir einige Zeitungen mit entsprechenden Tips für den Besuch … gingen zu Fuß quer durch den Bezirk Kreuzberg … In einer Geschäftsstraße bestaunte ich die Warenangebote. Besonderes Interesse hatte ich für die Tontechnik … Als ich an einem Café las, dass es für DDR-Bürger eine Tasse Kaffee kostenlos gab, kam ich ich mir vor wir ein Bettler … Manche unserer Bürger benahmen sich so auffällig, dass ich mich direkt geschämt habe. Das haben wir nicht nötig … Mitten im Trubel und Prunk sahen wir auch verwahrloste Leute … Auf der einen Seite reizvoller Angebote, tolle Autos, Kino‘s und auf der anderen Seite Armut und Obdachlosigkeit … obwohl es ein schöner und aufschlussreich Tag war, fühlte ich mich innerlich wohl, wieder zu Hause zu sein“

Die nächste Stippvisite erfolgt über den Grenzübergang Eberswalder Straße. Also dort wo heute der hippe Mauerpark liegt. Die Szenerie war ähnlich, kalte Temperaturen, Schlangestehen, Menschengeschiebe. Und dann standen wir auf einmal auf der Bernauer Straße im Bezirk Wedding, einer langweiligen Wohngegend. Wir liefen entlang der West-Mauer bis hoch zur Brunnenstraße und bogen dann rechts ab. Da gab es dann immerhin mal ein paar Läden. Weiter über Humboldthain und Bahnhof Gesundbrunnen, rein ins orientalische Leben der Badstraße. Türkische Gemüsehändler, Elektronik-Läden und ich glaube, dass ich dort meinen ersten Döner gesehen hatte. Das roch verdammt gut, aber ich meine, wir sind vorbeigegangen. Das Begrüßungsgeld erhielten wir erst später.

Ein weiteres Mal, dass wir die Mauer überquerten, war in der Weihnachtszeit am Brandenburger Tor. Ich bin fest der Überzeugung, dass beim Durchschreiten eilig demontierter Mauer-Segmente eine Nachricht verbreitet wurde. Da hieß es über Megafon, dass „Nicolae Ceaușescu erschossen „wurde“. Die Menge bejubelte das Ende des rumänischen Diktators. Ich habe das noch mal geprüft. Ceaușescu wurde am 25.12.89 hingerichtet, dass würde bedeuten, dass wir an erstem Weihnachtsfeiertag „rüber“ nach West-Berlin spazierten. Eher unwahrscheinlich. In der Familie heißt es, es wäre ein Werktag gewesen. Laut ChatGPT wurde der Grenzübergang Brandenburger Tor am 22.12.89 geöffnet und Ceaușescu am 22.12.89 festgenommen. Der 22.12.1989 war ein Werktag. Das würde passen. Gut, dann hat man vielleicht bejubelt, dass man ihnen erschiessen „werde“. Letztlich auch egal, zeigt aber, dass man mit Erinnerungen vorsichtig sein muss.

Als ich im >Februar 2020 vor dem Palast in Bukarest stand, bekam ich einen Eindruck von Ceaușescu‘s Größenwahn. Wenn ein Gebäude einschüchtern kann, dann das.

Titelbild vom 09.11.24, Reste der Berliner Mauer (Westseite), am unteren Teil der Bernauer Str, vorne Fahrradstreifen, dahinter Todesstreifen

<— 6) Akteneinsicht 1989: Mit Basecap zu Gorbi

—> 8) Akteneinsicht 1989: 100 Mark West

1) Akteneinsicht: Prolog

Heute ist der 9. November 2024, vor 35 Jahren hatte Günter Schabowski an einem Donnerstagabend eine plötzliche Reisefreiheit für DDR-Bürger verkündet. Ob geplant oder aus Versehen, da kann man heute viel munkeln, ist aber auch Wurscht. Ich war damals 13 Jahre alt, „aus Gründen“ gefühlt etwas älter und so tappte ich nun in diese Zeit des Zusammenbruchs, Umbruchs und Aufbruchs. Während es für die Eltern beruflich erst einmal bergab ging, hätte der Moment für mich nicht besser kommen können. Noch zu jung für FDJ, SED und NVA gewesen, aber schon alt genug, um aus diesem Chaos was zu machen. Der heutige Jahrestag hat mich in ein paar Papieren aus den 10 Jahren rund um den Mauerfall blättern lassen und da kam mir doch die Idee, die hier in einer neuen Kategorie namens „Akteneinsicht“ zu veröffentlichen (a.k.a leaken). Es wird nachdenklich, persönlich aber auch unterhaltsam, das kann ich schon mal sagen.

Aber nur erst einmal ein paar Eindrücke aus dem abendlichen Berlin des 9. November 2024. Eine Kette von Plakaten und Bildern erinnert an den Verlauf der ehemaligen Mauer durch die City und lädt zum Nachdenken ein … wie schnell so etwas einstürzen … aber auch wieder entstehen kann …

—> 2) Akteneinsicht 1987: Sozialistische Ordnung

61) Mauerfall im Dreierpack

Der 9. November gilt allgemein als Schicksalstag der Deutschen. Denn mehrere geschichtsträchtige Ereignisse hat es an 9. November-Tagen in der Vergangenheit gegeben, im Guten und im Schlechten. Ich würde mich mit fremden Federn schmücken, wenn ich die jetzt hier nenne und beschreibe. Das können andere sicherlich besser. Ohne die Ereignisse jetzt in ihrer Dramatik, Bedeutung oder Abscheulichkeit vergleichen zu wollen, wird mir persönlich der 9. November in erster Linie mit dem Mauerfall in Verbindung bleiben.

Und eigentlich hatte ich vor, mich heute mal an eine Fortsetzung meiner kurzen Mauerfall-Trilogie zu setzen, aber wenn ich so auf die Uhr schaue, dann wird das wohl nichts mehr heute.

Also re-launche ich einfach die drei Beiträge aus November 2019 noch einmal, mache ein Schleifchen drum und stelle sie als Dreierpack auf den digitalen Grabbeltisch. Machen Superstars auch so und verdienen sich dumm und dämlich, auch wenn sie schon tot sind. Keine Sorge, die hier kost‘n nüscht, Scorpions und Hasselhoff singen auch nicht.

Und ich mache jetzt mal die Glotze an, vielleicht gibt‘s heute mal wieder eine Pressekonferenz und etwas ganz Besonderes …und Positives … passiert.

PS: Na Mensch, jetzt stelle ich auch noch fest, dass die laufende Nummer dieses Beitrags in der Kategorie > Fiction die Nummer 61 geworden ist. Jahres des Mauerbaus. Was für‘n Zufall

Sonderangebot: 3 zum Preis von keinem

1) 30 Jahre Mauerfall – Teil 1

Etwas piept nahe seines Bettkissens, er wird endlich wach. „Oaah, was ist das für ein nervender Ton? Ah, ein Wecker. Komisches Teil. Egal.“ Wie immer, setzt er sich für einen…

2) 30 Jahre Mauerfall – Teil 2

Fortsetzung … … Auf dem Küchentisch liegt die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Ein winzig kleiner Artikel, am Rande der Rubrik „Vermischtes“, sticht ihm sofort ins Auge. Er beginnt zu lesen.…

3) 30 Jahre Mauerfall – Teil 3

Fortsetzung … „Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“ Bei dem letzten Gedanken wird ihm immer heißer.„Mein Beruf ist das eine, aber wie stehe ich eigentlich zum System? Schwimme…

3) 30 Jahre Mauerfall – Teil 3

Fortsetzung …

„Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“

Bei dem letzten Gedanken wird ihm immer heißer.
„Mein Beruf ist das eine, aber wie stehe ich eigentlich zum System? 
Schwimme ich hier einfach so mit der grauen Masse mit? Bin ich eher ein unauffälliges Rädchen im Getriebe und wurschtele mich durch den sozialistischen Alltag?
Bin ich vielleicht ein Unruhestifter, ein Oppositioneller sogar? Wartet deshalb der dunkle LADA da unten auf der Straße, um mich mitzunehmen sobald ich auch nur die Straße betrete?“

Die nächste Frage folgt konsequent und es läuft ihm kalt den Rücken herunter.
„Bin ich wohlmöglich bei den Grenztruppen gelandet, ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS geworden oder arbeite ich vielleicht sogar hauptamtlich bei der STASI? Warten im dunklen LADA da unten vielleicht Kollegen? Ober bin ich gar deren Vorgesetzter? Ist das der Grund für den klingelnden Wecker am frühen Sonntagmorgen? Oh nein, bitte nicht!“

Der Raum um ihn herum scheint sich zu drehen. Ihm wird übel. Er stolpert ins Bad und übergibt sich ins Klo. Der Magen gibt nicht viel her. Die Krämpfe lassen langsam nach, er erhebt sich wieder und schaut verrotzt in den Spiegel.
„Kann es wirklich dazu gekommen sein? Haben die mich letztlich für ihre Sache gekriegt? Wie kann ich mich dessen vergewissern? In der Wohnung hier gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Soll ich hinuntergehen und beim LADA ans Fenster klopfen? Keine gute Idee. Kann ich mich allein auf meinen Charakter und meine inneren Werte verlassen? Eigentlich schon, aber …“

Vor seinem inneren Auge erscheinen ein paar bewegte Bilder in Schwarz-Weiß.
Soldaten in Uniform besuchen seine Schulklasse und erzählen über ihre Aufgaben und ihren Dienst fürs Vaterland.
Im Sportunterricht werfen Jungs zunächst mit Bällen, später dann mit roten Übungs-Handgranaten. Typ F1. Russisch.
Wandertag und Ausflug zu einer Kaserne der Nationalen Volksarmee. Die Mädchen bekamen Papierfähnchen in die Hand, die Jungs werden ermutigt, in einen Schützenpanzer zu steigen.

Mit der Stirn hämmert er rhythmisch gegen den Spiegelschrank.
„Bitte lass‘ das alles nicht wahr sein. 
Bitte befreie mich jemand aus dieser Blase.
Bitte lass‘ mich die 30 Jahre nicht geträumt haben.
Bitte verwandle diesen furchtbaren Sonntag in einen Traum.
Bitte gib mir Zugang zu Informationen, zu Medien, so dass ich mich der Realität versichern kann.“

ENDE

PS: Liebe Leser, morgen ist der 10.11.2019. Ich wünsche allen, dass kein dunkler LADA vor der Tür steht. Auf das Ende der Mauer. Prost!

<– 30 Jahre Mauerfall – Teil 2

2) 30 Jahre Mauerfall – Teil 2

Fortsetzung …

… Auf dem Küchentisch liegt die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Ein winzig kleiner Artikel, am Rande der Rubrik „Vermischtes“, sticht ihm sofort ins Auge. Er beginnt zu lesen.

Rückblick: Zeitweise Öffnung des Antifaschistischen Schutzwalles 1989
Berlin. Am Rande des jährlichen Arbeitstreffens von KPdSU und SED, kommentierte der Staatsratsvorsitzende und General des ZK mit knappen Worten: „Rückblickend war die zeitweise Öffnung der Grenzanlagen 1989 ein echter Glücksfall für die Deutsche Demokratische Republik. Alle Kritiker, Nörgler und Dissidenten konnten in einer Einmal-Aktion aus dem Land geschafft werden. Seitdem kann sich die Bevölkerung endlich nach Sozialistischem Lebensentwurf entfalten. Die nur sehr wenigen Zwischenfälle in den letzten 30 Jahren wurden durch die Sicherheitsdienste routiniert gehandhabt und im Keim erstickt.“

Ihm werden die Knie weich und er muss sich erst einmal setzen.
„Ach du Scheiße. Bedeutet das etwa, dass …? Kann das sein? Das is‘ jetz´n Witz oder? Soll das etwa heißen, dass es die DDR in 2019 immer noch gibt und ich in diesem Land lebe? Hier und jetzt? Hier in dieser mir so fremden Wohnung?“

Er wird blass, bekommt kalte Hände und ihm fliegen sofort unzählige Fragen durch den Kopf.
„Existierten die letzten 30 Jahre gemeinsames Deutschland nur im Traum der letzten Nacht? Bin ich gerade aus einem Koma erwacht? Habe ich eine Amnesie? Hat es die Deutsch-Deutsche-Vereinigung also nie gegeben? Und was ist mit all den Dingen, die in der Zeit passiert sind? Unsere Reisen? Die erste gemeinsame Wohnung? Die Kinder? Mein Job? All die vielen schönen Erlebnisse. Alles nie passiert?“

Trotz fehlendem Kaffee im Körper, läuft sein Kopf auch Hochtouren und seine Beine wippen nervös. Er knabbert an seinen Fingernägeln.
„Wenn das alles zutrifft und heute wirklich Sonntag ist, dann ist morgen folglich Montag. Das heißt, ich werde morgen auf irgendeiner Arbeit erwartet. Aber was ist denn meine Arbeit? Was bin ich denn in diesem Land geworden? Nichts hier in der Wohnung deutet auf irgendetwas hin.“

Umso mehr er drüber nachdenkt, um so wärmer wird ihm.
“Habe ich hier einen ganz normalen Job? Sachbearbeiter vielleicht? Unspektakulär, aber ausreichend, um über die Runden zu kommen? Habe ich etwas Besonderes gelernt oder studiert, was mich ein Experte sein lässt? Bin ich Ingenieur geworden? Oder arbeite ich vielleicht sogar für den Staat… ?“

<— 30 Jahre Mauerfall Teil 1

—> 30 Jahre Mauerfall Teil 3

1) 30 Jahre Mauerfall – Teil 1

Etwas piept nahe seines Bettkissens, er wird endlich wach.
„Oaah, was ist das für ein nervender Ton? Ah, ein Wecker. Komisches Teil. Egal.“

Wie immer, setzt er sich für einen Moment an die Bettkante und kommt schnell zu sich. Er schaut hinüber auf die andere Betthälfte. Keiner zu sehen.
„Wo ist eigentlich meine Frau? Mhm, vielleicht schon aufgestanden.“

Er versucht, sich zeitlich zu orientieren.
„Gestern hat Deutschland 30 Jahre Mauerfall gefeiert … also müsste heute der … 10.11.2019 sein. Ja, genau. Heute ist Sonntag, der 10.11.2019. Und warum klingelt der Wecker an einem Sonntag?“

Er greift in Richtung Nachtisch, um sein Handy einzuschalten.
„Komisch, es ist nicht am gewohnten Platz. Na ja, egal. Mal schauen, was das Wetter heute so zu bieten hat.“

Durch das Schlafzimmerfenster wirft er einen Blick hinunter auf die Straße.
„Mächtig dunkel heute, düsterer als sonst und irgendwie verraucht. Nur wenige Autos stehen am Straßenrand. Sogar ein paar Trabi’s sind dabei und ein dunkler LADA auch. Schau an. Bestimmt noch Reste der Kulisse für die gestrigen Feierlichkeiten zum Mauerfall.“

Durch die halbdunkle Wohnung tappt er in die Küche zur Kaffee-Maschine, schaltet etwas Licht ein und greift aber anschließend ins Leere.
„Meine Kaffee-Maschine ist weg! Die Kapseln auch. What? Und warum ist es überall so verdammt kalt hier in der Bude“

Um einen Blick auf Nachrichten und Blog zu werfen, macht er sich auf die Suche nach seinem Tablet.
„Mein Tablet ist auch weg! Wo ist das Ding abgeblieben? Wo habe ich das gestern Abend hingelegt?“

Im Flur kommt er an einem Abreißkalender vorbei.
„Seit wann haben wir denn so etwas hier hängen? Waren das die Kids vielleicht? Ja, wo sind die überhaupt? Eigenartig. Das Kalender-Blatt zeigt noch den 09.11.2019 an, dann muss also heute wirklich der 10.11.2019 sein. Also, alles gut. Bin anscheinend nur etwas neben der Spur heute.“

In der Hoffnung, übers Fernsehen etwas mehr Zugang zur Außenwelt zu bekommen, geht er ins Wohnzimmer. Beim Betreten der Stube nimmt er im Vorbeigehen einen großen Kachelofen wahr. Kalt.
„Seit wann haben wir denn einen …. , ach egal. Ich brauche jetzt die Fernbedienung! Auf dem Couch-Tisch liegen sonst immer irgendwelche Fernbedienungen herum. Heute Morgen gibt es überhaupt keine mehr.“

An der Front des altertümlich anmutenden Fernsehers drückt er ein paar Schalter und setzt damit den Flimmerkasten in Gang.
„Beim ARD ist DDR 1 zu Gast und wiederholt einen Eiskunstlauf-Wettbewerb. Auf ZDF zeigt DDR 2 immer noch das Testbild der Nacht. Lustig. Nette Aktion zum Mauerfall-Jubiläum. Like it. Thumbs up.“

Er geht wieder zurück in die Küche. Auf dem Küchentisch liegt die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Ein kleiner Artikel, am Rande der Rubrik „Vermischtes“, sticht ihm sofort ins Auge. Er beginnt zu lesen.

—> 30 Jahre Mauerfall Teil 2

52) Schon wieder Oktober

Der Oktober ist ein Monat der Rituale und Wiederholungen. Ich habe das Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben. Hänge ich vielleicht in der Zeit fest? So wie Bill Murray in „Und täglich grüßt das Murmeltier“?

  • Und wieder feiern wir einen Mädchen-Geburtstag
    Die Girls sind junge Damen geworden, ich erkenne die kaum wieder. Sie verschanzen sich im Zimmer, man sieht sie kaum. Unser WLAN haben sie dieses Mal zwar nicht blockiert, dafür aber die Bäder und Spiegel.
  • Und wieder irren wir durch die Wohnung und stellen die Zeit um
    In der Zeitung schreiben sie über die Geschichte der Zeitumstellung, die fraglichen Effekte in der Energieversorgung und die anhaltenden Diskussionen in der EU dazu. Zu guter Letzt folgen verschiedene Eselsbrücken, wie man sich denn merken könne, ob man die Uhr nun vor-oder zurückstellt.
  • Und wieder erlebt man die letzten Tage der DDR
    Herr Genscher spricht vom Balkon der Prager Botschaft, David Hasselhoff und Klaus Meine beanspruchen für sich, die Mauer zum Einsturz gebracht zu haben und zwei Minuten später wird Günter Schabowski verdattert über den Brillenrand gucken und dann stammeln, dass die neue Reiseregelung … nach seiner Kenntnis … sofort …. unverzüglich … in Kraft tritt.
  • Und wieder haben die anderen Bundesländer einen Feiertag mehr
    Die einen feiern Reformationstag, die anderen feiern Allerheiligen. Berlin feiert nichts. Am Reformationstag werden die Brandenburger zum Shoppen nach Berlin strömen, zu Allerheiligen kann ich endlich mal in Ruhe arbeiten, weil aus Bayern keine Anrufe, E-Mails und Chat-Nachrichten kommen. Mein persönlicher Feiertag.
  • Und wieder feiern die Kids ihr Halloween
    Es werden kleine Monster durch die Straßen spuken und an den Wohnungstüren mit „saurem“ drohen, wenn’s nix „süßes“ gibt. Oder gern auch Bargeld. Der neueste Trend sind anscheinend Messer- und Beil-Attrappen die man den Kindern an den Kopf steckt. Sieht voll echt aus. Großartig, in der heutigen Zeit. Ich lege mir schon mal einen kleinen Vorrat an Süßigkeiten an, manch andere werden sich im hinteren Teil ihrer Wohnung verstecken, nur damit man zur Straße hin kein Licht sieht. Wieder andere hängen einen Zettel an die Tür. „Wir geben nix“.
  • Und sonst so?
    Ui Ui, die Zeit rennt davon. Termin für Reifenwechsel vereinbaren, Datsche dicht machen, Wunschzettel nicht vergessen und mit der Sippe verhandeln, ob man sich nun am ersten oder zweiten Weihnachts-Feiertag sieht. Und was machen wir eigentlich zu Sylvester?

Oah nee … was freue ich mich auf den Frühling!!

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