Fortsetzung …
„Ende der Konferenz einleiten!“, kann er am Rand seiner Holo-Con-Brille lesen. Schon knapp 90 Minuten spricht er bereits mit den Mexikanern, die vor ihm in seinem Zimmer schweben.
Er bringt das Gespräch zu Ende, die Kollegen lösen sich in Luft aus und er nimmt die Brille ab. Ihm grummelt es im Magen. Normalerweise rollt um 18:00 Uhr die Thermophore in seine Wohnung und versorgt ihn mit exakt 400 kcal für den Abend.
Gong. „Noah, dein Business-Dinner wurde vertagt, zur Sicherstellung der Performance, bitte ersatzweise zwei Dosen Perpetuol 2000 einnehmen“, klingt es aus der Zimmerdecke. Er kippt die blaue Flüssigkeit hinunter. Sie ist nicht besonders schmackhaft, aber es ist ein wahres Wunderzeug. Schießt es doch schlagartig Energie in Hirn, Augen und Hände. Die drei wichtigsten Organe der Human-Ressourcen seiner Klasse.
Gong. „Noah, es ist 18:30 Uhr, dein niedriger Social-Networking-Score erreicht in Kürze Melde-Pflicht“. Er hat sich da bereits zwei Tage nicht blicken lassen und müsste wieder etwas aufholen, um ein weiteres Sensibilisierungs-Training zu vermeiden. Also wählt er sich im Social Network der Firma ein und „liked“ und „praised“ wahllos umher. Es ödet ihn so an. Nach dem er auf diese Weise ein paar positive Spuren in der Firma hinterlassen hat, wechselt er zu den anderen Karriere-Netzwerken im Internet. Hier wird etwas mehr Teilnahme erwartet. Der Arbeitgeber erwartet aktive Mitwirkung und positive Kommentare. Also schreibt er fleißig „Great!“ oder „Congrats“ oder „proud2be“ unter nicht gelesene Beiträge.
Bis zum letzten Meeting des Tages hat er noch 13 Minuten Zeit. Keine Stimme aus der Decke, keine neuen Anweisungen. Stille. Noah erhebt sich, geht zum Fenster, schaut auf die Häuserzeilen seines Viertels und wälzt einen gut bekannten Gedanken. Soll‘s das sein? Will er ewig so weiter machen? Aber welche Optionen gibt es denn? Um sich von seinem Arbeitgeber zu lösen, müsste er eine beachtliche Kaution zurückzahlen und auch die Micro-Flat abgeben. Und selbst wenn? Was soll er dann machen? Viele der Jobs, für die er qualifiziert wäre, gibt es seit Jahren nicht mehr. Auftrieb haben aktuell nur Altenpfleger, Grundschullehrer und Psychiater, alles nichts für ihn.
Gong. „Noah, das Meeting 19:00 Uhr beginnt in wenigen Minuten. Das Dossier liegt zum Download bereit“. Er überfliegt es kurz. Es geht um die USA. Die sind zwar etwas nervig, aber wenigstens wissen sie was sie wollen. Und schon erscheinen die Amerikaner in seinem Zimmer. Nach kurzem Smalltalk kommen sie sofort zur Sache, platzieren ihre Forderungen und versuchen Noah mit einem „Deal“ festzunageln. Er gibt sich geschlagen, er kann nicht mehr. Er überlegt, ob die Ami’s nur deshalb zur Wirtschaftsmacht wurden, weil die Verhandlungspartner in Europa bereits müde sind, wenn sie mit ihnen verhandeln. Das Meeting geht zügig vorüber und die Cowboys verschwinden wieder aus seinem Zimmer.
Gong. „Noah, es ist 19:23 Uhr, die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit ist für heute abgeleistet“. Er seufzt erleichtert. Um etwas Privatsphäre zu haben, schickt er seinen Computer und das Holo-Con-System in den Stand By. Eine Abschaltvorrichtung gibt es nicht. Er nimmt den Fitness-Belt ab und legt sich auf seine Schlafmatte.
Gong. „Noah, es ist 19:30 Uhr, die Flex-Time beginnt, Nachtruhe wird ab 22:00 Uhr eingeleitet. Ausgewählte Artikel aus der Fachpresse, Best-Practice-Berichte und Benchmark-Studien liegen zum Download bereit. Schönen Feierabend.“
—> zum Teil 6
Ich verfolge diese Dystopie mit der Faszination des Grauens…
Mittels Fernwartung und Skype-Konferenzen lässt sich ja heute schon vieles ohne persönlichen Kontakt regeln, was zumindest Reisekosten und Co. spart. Aber diese Vorstellung eines durchgetakteten Lebens finde ich dann doch sehr gruselig.
Immerhin: Das Verhalten in sozialen Netzwerken scheint sich ja nicht groß zu verändern, da kommentieren heute auch schon viele, ohne die Beiträge zu lesen 😉
Wie sieht es denn bei Noah mit Familienleben aus? Auch virtuell?
Oh ja, das klingt alles sehr gruselig. Soll es ja auch. Aber wenn man mal die Aspekte 1) Holographie und 2) nur die Hälfte der extremen Fremdsteuerung weglässt, sind wir aber schon auf dem direktem Weg dahin. Was es nicht besser macht, aber vielleicht aufrüttelt.
Und zum Familienleben: ja Noah hat `ne Freundin, die heißt Yumi, mit der war er neulich hier auf’m Blog nach Indien gereist… aber das war auch dystopisch.
ich möchte nicht aufschreiben, was mir hier durch den Kopf geht. Pass auf Dich auf.
Interessante Reihe, habe sie gerade alle gelesen. In meinem Kopf sieht dein Noah aus wie Bruce Willis in „Das 5. Element“. Etwas erschreckend alles, aber gut geschrieben.
*like* und *praise* und *halleluja* 🙂
VG, René
Oh, vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, die Reihe ist etwas überspitzt. ABER, wir sind da gar nicht so weit weg von, wenn man mal die Holo-Con rauslässt und die Rund-Um-die-Uhr-Überwachung. Soll eine Warnung an all die sein, die denken, dass New Work nur hipp und schick ist. Grüße von einem der den Großteil im Home Office arbeitet…
Ja, du klingst auch so als wärst du vertraut mit dem Thema Punkt und gerade die Überzeichnung macht es gut nachvollziehbar 👍