Dass ich immer noch im Höhlen-Office arbeite, brauche ich nicht zu erwähnen. Es gibt zarte Anzeichen für nahende Präsenzmeetings, aber bis dahin verlasse ich die Höhle am Tage maximal zum Lunch oder für Besorgungen, wenn überhaupt. Aber selbst dann bleibe ich im Radius von ca. 3 km zum Höhleneingang. Ich könnte diesen Radius mit Kreisen markieren, vielleicht sogar einfärben, um das zunehmende Lärm-, Stress-, oder Aggressionslevel sichtbar zu machen.
Gehe ich aus der Tür, folgt bald ein Supermarkt. Kurz dahinter ziehe ich gedanklich mal den ersten Ring bei 100 m. Alles noch recht friedlich, kleinstädtisch fast. 30-er Zone, weniger Autos, Kinder, Fahrräder. Das einzige was an Großstadt erinnert, ist der Mann mit der dunklen Haut, der vor dem Supermarkt um Kleingeld bittet. Und die Schwärme von Gymnasiasten, die in den Pausen dort einfallen wie die Heuschrecken.
Den nächsten Ring ziehe ich bei 250 m, denn da befindet sich die erste große Kreuzung. Mehrspurig ballern die Autos mit Schwung drüber. Die Straßenbahnen kreuzen im Minutentakt, die >Fahrrad-Helden liefern sich ihre Wettrennen, >Imbisse stellen die Fußwege mit Stühlen voll, an den >Spaßkassen-Automaten gehts zu wie im Taubenschlag, beim >Späti gibts Hochprozentiges … und spätestens an der Ampel die ersten Ellenbogen.
Den dritten Ring ziehe ich am nächsten S-Bahnhof bei 500m und da ist dann endgültig Schluss mit Kleinstadt. Matratzen und Decken liegen unter der Brücke, eine räudige Burger-Braterei brät Burger für eilende Bürger und es herrscht ein Fahrrad-und Rollerverkehr, als hätte man gerade zur Evakuierung Prenzlauer Bergs aufgerufen.
Die nächsten 2,5 km überspringe ich mal jetzt, denn die sitze ich in der >Ring-Bahn und da gibt es leider kein stufenweises Herantasten an den Trubel in der Schönhauser Allee mehr. Denn steigt man dort aus der Bahn, hat man bereits alle weiteren Kreise durchflogen und steht mitten im Getümmel.
Hat man sich über die Treppe an die Erdoberfläche gekämpft, gibt‘s sofort Großstadt satt. Menschen hetzen in alle Richtungen, Fahrräder, Lastenräder, Roller, Kinderwagen, Hunde, Bettler, Obdachlose und die hippen Mitbürger mittenmang. Die U-Bahn auf der Hochtrecke über den Köpfen, Feuerwehr, Tram-Gerumpel, Müllabfuhr und Paket-Boten in der zweiten Reihe. Ein Geklingel und ein Gehupe. Rufe wie „Hallo Mia, hiaaaaa bin ich“ oder Schreie wie „Haltet ihn“ oder Geschimpfe wie „Ej, sa‘ ma‘ hast’de keene Oogen in Kopp“?
Dann drehe ich die Kopfhörer ein paar Stufen lauter und stehe maximal 10 Minuten am Straßenrand gegenüber eines Hauseingangs, um dort auf den Stammhalter zu warten und werde in der Zeit 20 mal verscheucht oder angesprochen. „Darf ick mal“ oder „Ick müsste mal an mein Fahrrad“ oder „Haben Sie Pizza bestellt?“ oder „Dit is‘n Radweg man!“ oder „Tschuldigung, hätten `se mal `n bisschen Kleingeld“. Von rechts riecht’s nach Döner, von links nach Eisdiele, von vorn nach Drogerie und von hinten nach Mülltonne. Weil da eine steht. Stand letzte Woche auch schon hier.



Jedes Mal wenn wir dann wieder in der S-Bahn in Richtung unserer Höhle sitzen, macht sich Entspannung breit. Aber auch da trügt der Schein.
Heute schlossen die Türen gerade, als Jugendliche brüllten und rannten.
Die Bahn fuhr an und kleine Kinder fingen im Wagen an zu heulen.
Fahrgäste verlagerten sich in den hinteren Wagenteil zu uns.
Dann folgten Wortfetzen, außerhalb unseres Sichtfeldes.
„Hust, spuck, schnief.“
Was ist passiert?
Geht’s gut?
„Heul, schluchz, rotz“
Braucht ihr Hilfe?
Do you …?
All good? Hello? Are you fine?
…
Ein Fahrgast greift zum Handy:
Ja, Hallo, hier Kasupke aus der Ringbahn … gerade Schönhauser raus … möchte Zwischenfall melden … Jugendliche … mit Messern … dann Reizgas rein … und weggerannt. Fahrgäste? Ja, so weit ok … die Fenster geöffnet … Bahn fährt noch. Schicken Sie einen Streifenwagen … und so weiter.
Sicher gibt‘s auch noch ganz andere Kreise in unserer Stadt, aber zurück bleiben verstörte Kinder, auffällig schwere Augenlieder und ein latent chemisches Kratzen im Hals.
Und die Gewissheit, dass es mir in meinem Höhlen-Office doch eigentlich ganz gut geht 😉
Och nöö, dit will ick janich hörn. Ick denk doch so romantisierend an mein Berlin zurück. 😢
Den ersten negativen Eindruck hatten wir am Bahnhof Zoo, aber wer erinnert sich nicht an sein „erstes Mal“, als er da im Goldenen Westen ausgestiegen ist.
Dass du immer noch im Höhlenoffice sitzt, find ich erstaunlich. Kenne ich sonst keinen in Deutschland, die Unternehmen meiner Freunde/Bekannten taten sich eher schwer, Homeoffice selbst in den schlimmsten Coronazeiten zu „erlauben“.
Tja Berlin kann schon etwas ekelig sein und dabei wohnen wir noch in der hippen Innenstadt.
Zum Homeoffice: Wir dürfen erst langsam zurück an die Arbeitsplätze, nur bei wichtigen Anliegen, mit Anmeldung, Genehmigung und fester Online-Reservierung eines Platzes. Wie im Kino. Das macht nur wenig Spaß und selbst der Kaffee zu Hause ist besser 😉
Aber irgendwann … irgendwann packe ich wieder meine Sachen und stehe morgens um 05:00 Uhr auf der Straße und warte aufs Taxi 😉
Sehe es im Sinne des Höhlengleichnis von Platon: Du lernst die Welt draußen durch die Schatten verstehen, die sie bei dir an die Wand wirft.
Oh. Danke Reiner. Da muss ich doch gleich mal nachlesen.
Hmmmm, da zieht es mich direkt wieder zurück in die Schweizer Beschaulichkeit… 🤪
Genieß die Zeit da hinter Bergen Synke.
Wie kommt man da hin? 😉
Ja, man kann sich im Höhlenoffice eine regelrechte Menschphobie zuziehen. Vermutlich hat sie mich auch in gewisse am Wickel. Mit den plötzlichen Menschenmassen komme ich nur schwer zurecht. Aber vermutlich werden wir uns auch daran wieder gewöhnen.
So ein Zwischenfall, wie Du ihn beschreibst, macht es natürlich nicht einfacher. Da frage ich mich nur wieder völlig entsetzt, wieso jemand sowas macht?
Danke Belana Hermine, ja …. Menschphobie … da mag schon was dran sein. Dabei habe ich den ganzen Tag mit Menschen zu tun, nur sitzen die alle 100-e bis 1000-e Kilometer weg und das läuft i.d.R. geordnet und geplant ab. Da kommt man bei so einem Ausflug im Feierabendverkehr der Großstadt ganz schnell zu ungeahnten Kontakten
Der zwischengeschaltete Bildschirm vermittelt in der Tat eine gefühlte Sicherheit. So leicht springt da keiner raus und haut einem eins auf den Deckel…
Ja, Berlin kann echt eine Herausforderung sein 😅! Geht mir auch öfter so, wenn ich im Epizentrum meiner Wahlheimat unterwegs bin. In meinem Schöneberger Kiez geht es noch vergleichsweise geordnet zu. Aber wehe, ich wage mich ein paar Kreise (um bei deiner Wortwahl zu bleiben) weiter …
Bald, ganz bald, check ich noch, wo du wohnst. Mit diesen Bildern hast du mich allerdings ordentlich verwirrt 😉
Ich wollte Spuren legen, aber eben nicht so offensichtlich, sonst stehen bald noch Leute mit Fackeln vorm Haus. Solch Irre soll es ja geben.
Bestimmt warst du aber schon an all diesen Plätzen, irgendwann laufen wir uns mal über den Weg