4) New Work – Teil 1

Gong. „Guten Morgen Noah, es ist Dienstag 06:00 Uhr, wir haben den 19. November, du musst aufstehen“, säuselt eine Frauenstimme von der Zimmerdecke und fährt mit dem alltäglichen Briefing fort.

„Nachrichten der Prioritätsklasse 1: Textilfabrik in Indien explodiert, Jahrhundert-Sturm in Florida, Frankreich geht in die nächste Fraxit-Verhandlung, letzter Mensch verlässt für immer Bangladesh. Relevanz für deinen heutigen Arbeitstag: Keine

Nachfolgend die Incidents des gestrigen Abends: Die Kollegen in USA melden ein Severity 1-Issue mit dem Upload, das Team in Mexico erwartet Unterstützung beim Test, in Brasilien gab es Probleme bei der Migration der Daten.

Ausblick auf den Tag: Erstes Meeting in T minus 30. Australien erbittet Support, nur Severity 2, aber seit drei Tagen unbeantwortet. Weitere Holo-Cons folgen dann jede halbe Stunde. Reminder und Dossiers liefere ich wie üblich jeweils zwei Minuten vorher. Das Briefing für den Nachmittag erfolgt 12:30 Uhr während deines E-Lunchs.“

Er steht auf und schlurft zum Bad nebenan. Er ist sehr glücklich über seine Micro-Flat, erspart sie ihm doch viele Laufwege, die sich in der alten Wohnung über den Tag doch zu einer nennenswerten und unproduktiven Zeitverschwendung von ca. 30 Minuten aufsummierten. Große Wohnungen sind eh aus der Mode gekommen. Seitdem eigentlich nur noch gestreamt wird und das Anschaffen von CD’s, DVDs, Büchern eher etwas für Messis und Nostalgiker geworden ist, braucht auch er keinen Platz mehr für all das Zeug.

Im Bad setzt er sich aufs Klo. Das Urinieren im Stehen wäre zwar effizienter, wurde aber bereits vor Jahren zu Gunsten der Geschlechtergerechtigkeit von seiner Firma verboten. Sensoren in den Bodenfliesen melden Verstöße an den Arbeitgeber und Vermieter und führen zu unnötigen Minus-Punkten auf seinem Social-Credit-Konto.

Um die Zeit auf dem Klo etwas besser zu nutzen, beginnt er schon einmal, sich die Zähne zu putzen. Er fragt sich, warum immer noch keine Technologie erfunden wurde, um die Dauer dieses lästigen Vorgangs unter eine Minute zu bringen. Solange das Zähneputzen drei Minuten dauert, lässt es sich schlecht mit dem Wasserlassen parallelisieren.

Bei der Haarpflege hingegen gab es bereits deutliche Verbesserungen. Noah setzt sich eine Haube auf den Kopf und in Windeseile rasieren Nano-Roboter sein Gesicht, stutzen ihm die Haare und epilieren Härchen in Ohren und Nase. Die Haube wurde vom Arbeitgeberverband konzipiert und verschafft der Human-Ressource ein ordentliches Aussehen. Zusätzlich eine tägliche Zeitersparnis von durchschnittlich 13,5 Minuten und Frisörbesuche während der Arbeitszeit sind unnötig.

Die Kleidung wechseln muss er nicht. Human-Ressourcen seiner Klasse tragen rund um die Uhr einen Overall. Spezielle Textilfasern sorgen dafür, dass Dreck nicht an ihnen haftet und der Geruch von Körperflüssigkeiten neutralisiert wird. Das Anschaffen, Reinigen und Ordnen von Kleidung entfällt vollends. Bei durchschnittlich 364 Arbeitstagen im Jahr bringt der Verzicht auf wechselnde Kleidung einen Arbeitszeitzuwachs von 182 Stunden p.a. plus Einsparung der Fläche für Kleiderschrank, Waschmaschine und Wäscheständer.

—> Zum Teil 2

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